Adventskalender und Bingo 2014 - Wünsche

Dec 08, 2014 23:19


Titel: Wünsche
Bingo-Prompt: Drei Wünsche frei
Zusammenfassung: Irritiert blickte Thiel noch einmal von seiner dampfenden Pizza auf. Wimper? Pusten? Und sich dabei auch noch was wünschen oder was? Er schnaubte. Das konnte doch nicht Boernes Ernst sein??
Wörter: knapp 3000
A.N. 1: eine Stunde zu früh, aber ich muss jetzt dringend ins Bett und morgen früh auf eine Beerdigung. Vor dem Tag hab' ich echt Sorge (um nicht zu sagen, Horror) und mag nicht früh um sieben schon posten. Man möge es mir nachsehen.
A.N.2: Diese Story ist extrem eigen... Baggi halt, und dann noch so ein Prompt.... lasst euch einfach drauf ein und mit dem Strom mittreiben, oder versucht es gar nicht erst. (Letzteres mag empfehlenswerter sein.) Wie immer ohne Beta.


"Sie haben da was."
Bevor Thiel überhaupt realisierte, worauf Boerne hinauswollte, hatte sein Kollege schon den Arm ausgestreckt und wischte mit dem Zeigefinger seitlich an seinem Nasenrücken entlang. Im Reflex zuckte Thiel zurück, schlug die Hand weg wie ein lästiges Insekt und quetschte ein: "Mensch Boerne, hören Sie mal auf, mir im Gesicht rumzufummeln?", an dem etwas zu groß geratenen Bissen Pizza vorbei, den er sich in seiner hungrigen Hast kurz zuvor in den Mund gestopft hatte.
Völlig unbeeindruckt von diesem grummeligen (und wahrscheinlich ziemlich unverständlichen) Anraunzer rammte Boerne ihm den Finger nun fast ins Auge. "Eine Wimper", deklarierte er dabei mit solcher Wichtigkeit, als habe er soeben die Namen der diesjährigen Nobelpreisträger bekanntgegeben.
Als Thiel bemerkte, das er unwillkürlich zu schielen begonnen hatte in dem Versuch, das Corpus Delicti an der Fingerspitze seines Kollegen zu erkennen, wandte er über sich selber entnervt den Kopf ab. Er nahm sich nur noch die Zeit, ein zutiefst sarkastisches "Toll!" zu brummen, bevor er sich schleunigst wieder seiner Mahlzeit widmete. Einfachste Grundbedürfnisse, wie zum Beispiel eine regelmäßige Nahrungsaufnahme, waren in den letzten, anstrengenden Tagen zu oft zu kurz gekommen. Er konnte gar nicht verstehen, wieso Boerne sich mit Nebensächlichkeiten beschäftigte, anstatt selbst endlich auch zu essen. Er hatte doch ebenfalls seit einer Ewigkeit nichts Anständiges zwischen die Zähne bekommen.

Boernes Prioritäten lagen derzeit allerdings eindeutig woanders. Nachdrücklich wedelte er mit dem Finger, wobei er etwas ungeduldig wiederholte: "Thiel! Eine Wimper! Pusten Sie sie weg, worauf warten Sie denn?"
Irritiert blickte Thiel noch einmal von seiner dampfenden Pizza auf. Pusten? Und sich dabei auch noch was wünschen oder was? Er schnaubte. Das konnte doch nicht Boernes Ernst sein??
Aber dann fiel ihm ein, welche Begeisterung vor gar nicht allzu langer Zeit eine simple Sternschnuppe bei seinem Kollegen ausgelöst hatte und ihm wurde klar, dass Boerne das absolut ernst meinte.

Hastig beschloss er, die schwachsinnige Idee seines Nachbarn gleich im Keim zu ersticken. "Sehen Sie zu, dass Sie Ihre Pfoten selbst wieder sauber bekommen!" Energisch schob er die Hand aus seinem Blickfeld und stopfte sich mit einem geknurrten: "Ich glaub', es hakt", eilig ein weiteres Stück Pizza in den Mund. Das sollte ja wohl deutlich genug sein, selbst für Boerne.

Natürlich funktionierte es nicht.
„Ach, nun seien Sie doch nicht so stur!“ Boerne grinste fröhlich und hielt den Finger immer noch ausgestreckt. „Sie können mir nicht weismachen, dass Sie den Brauch nicht kennen! Pusten und wünschen! Na los!“
Frustriert über diese Penetranz ließ Thiel sich in die Lehne seines unförmigen Schreibtischstuhls zurückfallen und konnte dabei ein langgezogenes Seufzen nicht unterdrücken. Wieso hatte er diese Nervensäge eigentlich nicht längst aus seinem Büro geworfen, dann könnte er jetzt ungestört essen?! Weil du ihm diese warme Mahlzeit und die kurze Pause zu verdanken hast, flüsterte eine zynische Stimme in seinem Kopf, was ihn dazu brachte, nur ein ergebenes: „Hör‘n Sie doch auf mit diesem dämlichen Kinderkram! Sie wollen mir nicht ernsthaft erzählen, dass Sie an sowas glauben??“, zu nuscheln.

„Mit vollem Mund spricht man nicht, das sollten sogar Sie inzwischen wissen. Und selbstverständlich glaube ich daran, das hat schon oft funktioniert!“
Auch diese mehr als deutlichen Worte hatten Boernes Enthusiasmus also nicht dämpfen können.
Gegen seinen eigenen Willen amüsiert beobachtete Thiel, wie der Professor sich die Brille, die ihm in seinem Eifer ein Stück nach unten gerutscht war - anders als sonst - mit dem Mittelfinger der linken Hand hochschob. Musste er wohl, hielt er die rechte mit der Wimper schließlich immer noch ausgestreckt.
Thiel fragte sich nicht zum ersten Mal, woher der Mann eigentlich seine Energie nahm.

„Thiel, jetzt haben Sie sich doch nicht so! Na kommen Sie schon, auch ein gestandener Mann wie Sie hat doch Wünsche?“ Ein weiteres Mal fuchtelte Boerne auffordernd mit dem Finger herum. „Wenn jetzt eine gute Fee vorbeikäme und würde Ihnen eröffnen, Sie hätten drei frei, was würden Sie sich wünschen? Na? Hm?“

Thiel schnaubte. „Eine Fernbedienung um Sie auf stumm zu schalten, was sonst?“
"Oooh, Herr Hauptkommissar… charmant wie immer!" Natürlich war Boerne von diesem Schuss vor den Bug in keiner Weise beeindruckt und erst recht nicht sprachlos. Nicht dass Thiel ernsthaft darauf gehofft hätte.
Aber immerhin ließ der Rechtsmediziner die Hand nun endlich sinken und streifte die Wimper behutsam an seiner Serviette ab. „Etwas mehr Weitsicht und Einfallsreichtum hätte ich Ihnen allerdings schon zugetraut.“ Er war offensichtlich nicht beleidigt, seine Augen funkelten immer noch spitzbübisch. „Ich dachte, Sie wünschen sich eine Currywurstbude, die 24 Stunden geöffnet hat. Möglichst im Haus nebenan. Oder eine Jeans, die nie gewaschen werden muss. Oder ein unstehl- und unplattbares Fahrrad… na kommen Sie schon, raus damit!“

„BOERNE!! Is‘ gut jetzt! Ich mach mich doch hier nicht zum Idioten!"
Thiel war müde und hungrig und hatte noch einen Haufen Arbeit vor sich. Und ja, zusätzlich zu dem dringenden Bestreben, den aktuellen, miesen Fall abzuschließen, hätte jetzt aus dem Stehgreif wohl ein halbes Dutzend brennende Wünsche aufzählen können. Aber an ein oder zwei davon erlaubte er sich selten genug, überhaupt zu denken, geschweige denn, sie laut auszusprechen.
Für den Bruchteil einer Sekunde nur flackerte sein Blick zu der bunten, weitgereisten Karte, die - für seinen Geburtstag ein Stück zu spät, aber für Weihnachten noch zu früh - auf seinem Schreibtisch stand, bevor er ein weiteres Mal energisch von seiner Pizza abbiss.

Während er angelegentlich kaute fiel ihm mit einem Mal auf, dass der Professor verstummt war. Als er verwundert aufsah, stellte er fest, dass sein Gegenüber ihn stirnrunzelnd fixierte, und in seinen Augen lag in diesem Moment etwas, das Thiel noch nicht oft dort gesehen hatte, aber von dem er sich ziemlich sicher war, es richtig zu deuten: Verständnis.

In dieser Sekunde wurde ihm wieder einmal bewusst, dass hinter all den anstrengenden Macken und nervtötenden Eigenschaften, die Boerne regelmäßig an den Tag legte, dennoch ein brillanter Beobachter steckte, der so leicht nicht zu täuschen war. Zeitgleich mit dieser Erkenntnis ergriff Boerne ein weiteres Mal das Wort. „Es spricht absolut nichts dagegen, sich den einen oder anderen schönen Kindheitsglauben bis ins Erwachsenenalter zu erhalten. Wünsche zu haben, ist menschlich. Da ist nichts Peinliches dabei!“
Jedem anderen musste sein Tonfall belehrend und überheblich wie immer erscheinen, aber der Kommissar kannte ihn gut genug um wahrzunehmen, dass seine Stimme etwas weicher und ruhiger klang, als das unter anderen Umständen der Fall gewesen wäre. Das war keine Verteidigung seines Standpunkts. Es war vielmehr die Bestätigung, dass er sehr genau durchschaut hatte, was gerade in Thiel vorging. Und vielleicht sogar eine Art unbeholfenes Angebot, dass Thiel darüber sprechen könne, wenn er nur wolle.
Doch das war wohl die allerletzte seiner Ideen. Und das ließ er seinen Kollegen auch wissen. „Mensch Boerne, das einzige was hier peinlich ist, sind Sie! Und entweder Sie essen jetzt endlich oder ich klau mir auch noch Ihre Pizza!“

„Machen Sie sich keine Hoffnungen, das würde ich niemals zulassen! Das wäre keinesfalls zu verantworten bei Ihrer Figur.“ Damit griff auch Boerne endlich zu seinem Besteck.
"Na vielen Dank für dies Gespräch.“ Thiel rollte leicht amüsiert mit den Augen; nur Boerne konnte innerhalb eines Sekundenbruchteils von mitfühlend wieder zu alter, überheblicher Form auflaufen.

Der Rechtsmediziner hatte allerdings den ersten Bissen noch nicht zum Mund geführt, als die Tür aufflog und völlig unvermittelt die Staatsanwältin ins Büro polterte. Frau Klemm stutzte kurz, als ihr Blick auf den Professor fiel, dann legte sie in ihrer üblichen Manier los.
"Sehen Sie zu, das sie Ihr Essen aufkriegen, Thiel! Es gibt Arbeit." Ohne weitere Erklärungen ließ sie ihn nun links liegen und wandte sich seinem Kollegen zu. „Boerne! Ich habe zwar keine Ahnung, warum Sie der Meinung sind, sich hier schon wieder aufhalten zu müssen, aber es spart mir einen Anruf. Sie müssen eine DNA-Test machen, fahren Sie ins Institut und holen Sie, was Sie brauchen.“
Boerne hatte ebenso wie Thiel selbst bei ihrem überraschenden Eintreten aufgeblickt und sich den Auftritt der großgewachsenen Frau völlig unbewegt angesehen. Nun nickte er ihr beinahe hoheitsvoll zu. „Ihnen auch einen guten Tag, Frau Klemm."
Thiel schnaubte belustigt in seine Pizza und schüttelte den Kopf über Boernes Unverbesserlichkeit, wappnete sich dabei aber innerlich schon für die Retourkutsche, die nun unweigerlich folgen musste.
Doch erstaunlicherweise ignorierte Frau Klemm diese Spitze und ihre nächsten Worte reichten, um nicht nur den Professor wie elektrisiert aufhorchen zu lassen. „In der Südstadt haben Zivilpolizisten einen Junkie aufgegriffen, der auf offener Straße eine goldene Armbanduhr versetzen wollte. Bei dieser Uhr handelt es sich zweifelsfrei um eins der Schmuckstücke, die bei dem Raubmord letzte Woche gestohlen wurden.“

„Is‘ nicht Ihr Ernst!" Thiel schluckte hastig den letzten Bissen Pizza hinunter und griff dann zu seiner Serviette, um sich den Mund abzuwischen. „Ist er auf dem Weg hierher? Den werde ich mir zur Brust nehmen!“ Kaum zu glauben, dass es in diesem vertrackten Fall mit einem Mal einen Schritt weitergehen sollte, hatten sich doch bislang alle Spuren im Sande verlaufen. Hatte er das mit den Wimpern vielleicht unterschätzt? Und klappte das inzwischen sogar ohne Pusten? Erregt zerknüllte er das Papier in seiner Hand und warf es auf den Tisch. „Das Opfer wurde vor einigen Jahren mit Drogenhandel in Verbindung gebracht, auch wenn man ihm nie was nachweisen konnte. Durchaus vorstellbar, dass einer seiner ehemaligen Kunden ihn sich vorgeknöpft hat.“

Frau Klemm konnte einen befriedigten Unterton nicht aus ihrer tiefen Stimme fernhalten, als sie ihm kurz zunickte. „Genauso ist es, da können Sie Ihren Hintern drauf verwetten.“ Dann blickte sie zurück zu Boerne. „Und Sie sind derjenige, der es beweisen wird, selbst wenn er die Aussage verweigert. Wie schnell können Sie die nötigen Materialen besorgen?“
Boerne hatte sein Besteck schon beiseitegelegt. „Ich habe meinen Koffer bei mir. Sobald der Verdächtige hier ist, kann ich den Abstrich entnehmen."
Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie mit dem Kinn über die Schulter wies. „Er gehört Ihnen. Sitzt im Verhörraum.“

Keine Minute später stand Thiel im Vorraum des Verhörzimmers an die Wand gelehnt und beobachtete durch die verspiegelte Scheibe, wie die Staatsanwältin dem Verdächtigen eröffnete, dass sie einen DNA-Test angeordnet habe, der nun sofort durchgeführt werden würde.
Die Augen des heruntergekommenen Kerls hatten sich während ihrer schneidenden Worte immer mehr verengt, während sein Gesicht förmlich versteinerte; und als Boerne, der sich während Frau Klemms Ausführungen ein wenig im Hintergrund gehalten hatte, nun vortrat und den Deckel von einem Abstrichröhrchen schraubte, zuckte er zurück.
"Nein! NEIN! Ich verweigere das!" In Christoph Benders aknenarbigem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Zorn und Panik, als er auf seinem Stuhl ein Stück nach hinten rutschte und abwehrend seine dreckigen Hände ausstreckte. "Sie machen hier verflucht nochmal gar nichts! Mit der Scheiße, die Sie mir anhängen wollen, hab ich nich' das Geringste zu tun!!"
"Gut für Sie, wenn es so ist." Gelangweilt verschränkte Frau Klemm die Arme.
"Ich will einen Anwalt!!"
Der Mann am Tisch wurde immer lauter, doch der Ausbruch des Gefangenen interessierte die großgewachsene Staatsanwältin natürlich in keiner Weise; Thiel konnte ihr mitleidiges Lächeln nicht sehen, aber er hörte es an ihrer Stimme. "Kriegen Sie. Aber der kann gegen meine Anordnung sowieso nichts machen. Also, Klappe auf." Sie nickte dem Professor zu. "Boerne."
Auf ihre Aufforderung hin holte der Professor das Wattestäbchen aus der sterilen Verpackung, doch für alle unerwartet sprang Mann am Tisch vor Zorn brüllend auf, stieß Boerne von sich und machte einen Satz zurück.
Der muskelbepackte Polizeibeamte, der in seiner Nähe positioniert gewesen war, warf sich umgehend auf ihn, aber statt sich ihm geschlagen zu geben, wehrte sich der Gefangene mit der Macht der Verzweiflung. Innerhalb einer Sekunde waren die beiden Männer in ein erbittertes Handgemenge verwickelt.
Während Boerne durch Benders heftige Attacke zurückgestolpert und fast zu Boden gegangen war und die Staatsanwältin mit einem erschreckten Ausruf die Hände vor dem Mund geschlagen hatte, hatte Thiel sich instinktiv in Bewegung gesetzt. Achtlos einen Stuhl zu Seite schleudernd stürmte er durch die Tür und auf die ringenden Männer zu, doch er kam mit einem ungläubigen Fluch zum Halt, als er sah, dass Bender es geschafft hatte, seinem Gegner die Dienstwaffe aus dem Halfter zu reißen. Thiels Reflexe setzen ein, bevor sein Hirn es tat, fast unmittelbar hatte er seine Pistole im Anschlag. Zeitgleich hatte Bender mit einem unmenschlichen Schrei den ihn umklammernden Polizisten von sich geschleudert und sich mit der Waffe in der Hand aufgerichtet.
Thiel sah den Wahnsinn in seinen Augen, sah einen Mann, dem alles egal war. In dem Moment wusste er, er hatte keine Wahl, als abzudrücken.
Doch er hatte einen Wimpernschlag zu lange gezögert.
Ihre Schüsse fielen gleichzeitig. Und das Letzte, was er noch registrierte, bevor er fassungslos in die Knie sackte und sein Hirn bis auf Weiteres jegliche rationale Wahrnehmung einstellte, war ein entsetzter Aufschrei aus mehreren Kehlen.

Er schrie selber, als er aus dem Schlaf auffuhr. Nadeshda, die neben ihm gekauert und ihn offensichtlich am Arm gerüttelt hatte, zuckte bei seiner heftigen Bewegung erschrocken zurück, doch das nahm er kaum wahr. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sich taumelnd aus dem unförmigen Ledersessel auf die Füße kämpfte und ohne nach rechts und links zu schauen über den Flur in die Herrentoilette stürmte; am Waschbecken angekommen, drehte er das kalte Wasser bis zum Anschlag auf und warf sich wieder und wieder davon ins Gesicht. Schliesslich verharrte er über dem Becken zusammengekrümmt und versuchte mit zugekniffenen Lidern, die bebenden Hände auf die Augen gepresst, die fürchterlich realen Bilder zu vertreiben, die immer noch durch seinen Kopf geisterten.
Mit aller Macht konzentrierte er sich auf die Geräusche, die aus aus dem Flur und den naheliegenden Räumen zu ihm drangen: Telefongeläut; Stimmgemurmel; das Geräusch von Rollen auf Linoleum, eilige Schritte, die sich entfernten... diese wohlbekannten Laute halfen ihm ein Stück weit dabei, sich zu beruhigen. Dennoch brauchte er einige tiefe Atemzüge, bis sich sein rasender Herzschlag ein wenig verlangsamte und er das Gefühl hatte, sich wieder einigermaßen unter Kontrolle zu haben.

"Geht's wieder?"
Es erstaunte ihn nicht, Nadeshdas Stimme neben sich zu hören, es war ihm klar gewesen, das sie ihm gefolgt war. "Mhmm." Nach einem weiteren tiefen Atemzug riss er sich so gut es ging zusammen und richtete sich ein wenig auf, ließ die Hände sinken und stützte sich schwer auf das Waschbecken.
Seine junge Kollegin stand im Türrahmen, scherte sich nicht darum, dass sie sich gerade im Männer-WC befand. Besorgnis spiegelte sich überdeutlich in ihren ausdrucksstarken Augen. „Es tut mir leid, Chef!“, sprudelte es aus ihr hervor. „Ich hatte überlegt, Sie zu wecken, aber Sie sahen so fertig aus und Frau Klemm kommt frühestens in einer halben Stunde zurück und… also, ich dachte wirklich, ein paar Minuten Schlaf würden Ih…“
Sie verstummte, als er sie mit einem heiseren „Quatsch, Nadeshda!", unterbrach. Dicke Wassertropfen rannen aus seinen Stirnhaaren, einige liefen ihm über Wange und Hals in den Kragen, andere fielen auf seinen Pulli. In einer kraftlosen Bewegung wandte er sich dem Papiertuchspender zu, zog ein paar der grauen Handtücher heraus und wischte sich damit übers Gesicht. „Könn'n Sie doch nich' ahnen, dass ich mir so eine Kacke zusammenträumen würde...“, knurrte dabei in das harte, irgendwie unangenehm riechende Material.

Er versteifte sich ein wenig, als er plötzlich ihre Hand an seiner Schulter spürte, entspannte sich aber dann und lehnte sich müde in diese kleine und doch so wohltuende Geste. Doch die Entspannung war wie weggewischt und Nadeshdas Griff löste sich abrupt, als sich energische Schritte näherten und eine tiefe Stimme schon von weitem rief: „Frau Krusenstern?“
„Ich bin hier!“
Thiel hörte, dass sie sich von ihm abgewandt hatte und zurück in den Flur getreten war, aber er selber brachte nicht die Kraft auf, es ihr gleichzutun. In ihm war alles gefroren; er taumelte gegen die Wand, war sich der Tatsache, dass er die Tücher in seinen Händen fast zerquetschte, nicht bewusst; er lauschte einfach nur wie paralysiert.
Die die eiligen Schritte waren zum Stillstand gekommen, die Stimme erklang nun näher und gedämpfter. „Christoph Bender ist vor zehn Minuten auf dem OP-Tisch verstorben. Wir konnten ihn nicht retten, seine Verletzung war zu schwer."
Für einen Moment herrschte eine fast unwirkliche Stille, in der Thiel nur den Puls in seinen Ohren hämmern hörte. Als der Arzt nichts weiter sagte, ertönte die leise und erschreckend ängstliche Stimme seiner Assistentin. "Und der Professor?"
Es dauerte zwei Sekunden, bis der Angesprochene schließlich antwortete. "Er kämpft." Das noch sprach er nicht aus, aber es schwebte im Raum - in den zwei kurzen Worten hatten so viel Unbehagen und Resignation gelegen, dass Thiel schwindelig wurde. Das Zögern des Mediziners und der Tonfall seiner Stimme sagten mehr als tausend Worte.

„Wo ist Professor Boernes Schwester? Haben Sie sie inzwischen erreicht? Sie muss unbedingt herkommen, nur sie kann die Entscheidungen treffen, die vielleicht  bald anstehen.“
Thiel hatte Mühe, die dringlichen Fragen des Arztes durch das Rauschen in seinem Kopf überhaupt noch zu verstehen; was Nadeshda antwortete, dass sie sich mit dem hektisch auf sie einredenden Mediziner entfernte, nahm er kaum noch war, es ging fast vollständig an ihm vorbei. Er rutschte einfach nur kraftlos an den Wandfliesen dieser tristen, hässlichen Krankenhaus-Toilette herab zu Boden und wünschte sich, endlich aus diesem Alptraum aufzuwachen.
Nur leider war es kein Traum.

Es war die Tatsache, dass er vor Kälte zitterte, die ihn irgendwann wieder einigermaßen zur Besinnung kommen ließ. Seine Finger hatten sich so um die Papiertücher verkrampft, es kostete ihn fast Kraft, sie zu lösen und die nassen Klumpen in den Mülleiner neben sich fallen zu lassen. Auf die Füße zu kommen und sich aufzurichten glich Schwerstarbeit; erschöpft und langsam wie ein alter Mann drehte er sich schließlich Richtung Tür. Dabei streifte er im Spiegel über dem Waschbecken mit einem Blick das wachsweiße Gesicht, das ihm entgegenblickte und das ihm vorkam, als sei das ein Fremder, der ihn da aus leblosen Augen anstarrte. Doch gerade, als er sich schon abwenden wollte, fiel ihm ein kleiner, schwarzer Punkt über seinem Jochbein auf und er beugte sich vor und fixierte ihn genauer.

Eine Wimper.

Mit zitternder Hand streifte Thiel sie ab und sah sie eine Weile an, wie sie an seiner Fingerspitze klebte. Dann schloss er die Augen und pustete; und betete zu Gott, dass hinter Boernes naivem Kinderglauben auch nur ein Fünkchen Wahrheit stecken möge.

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