17. Kapitel
Als du am Trainingsgelände ankommst, fühlst du dich noch immer scheiße und selbst das ist noch untertrieben.
Hast natürlich viel zu wenig geschlafen, weißt immer noch nicht, was jetzt mit dir und Clemens ist - und zum Frühstücken hattest du schließlich auch nichts mehr im Haus. Perfekter Scheißtag quasi.
Und dabei hatte der Tag so gut angefangen…
Auf dem Parkplatz siehst du dich um und stellst mit einer Mischung aus Erleichterung und leichter Besorgnis fest, dass Clemens‘ Auto noch nicht auf seinem gewohnten Platz steht. Und du bist selber schon extra spät losgefahren, um sich nicht allzu lange in der Kabine aufhalten zu müssen.
Tatsächlich bestätigt sich deine Vermutung gleich darauf, als du die Mannschaftskabine betrittst.
Clemens ist noch nicht da - und es sind nur noch wenige deiner Kollegen in der Umkleide, die meisten sind wohl schon draußen auf dem Trainingsplatz und laufen ihre Aufwärmrunden.
Aaron und Markus stehen in einer Ecke und unterhalten sich grinsend. Peter steht noch vor dem Spiegel und richtet seine Haare. Der ist was das betrifft beinahe ebenso eitel wie Clemens.
Die drei nehmen keine große Notiz von dir, als du den Raum betrittst, nicken dir nur kurz zu. Du bist froh darüber, dass niemand so richtig auf dich aufmerksam wird. Wären Per oder Torsten im Raum, dann hättest du jetzt schon die ersten unangenehmen Fragen am Hals, da bist du dir ziemlich sicher.
Hast schließlich auch einen Spiegel zu Hause. Und weißt, dass du alles andere als sonderlich fit aussiehst.
Schnell ziehst du dich jetzt also um, versuchst, dir keine allzu großen Sorgen um Clemens zu machen. Am besten gar nicht an ihn zu denken oder daran, warum er wohl noch nicht hier ist.
Kannst trotzdem nicht verhindern, dass du immer wieder in Richtung Tür schielst.
Aber nichts tut sich. Clemens kommt und kommt nicht, auch als du endlich fertig umgezogen bist und die Umkleidekabine jetzt abgesehen von dir völlig leer ist.
Bevor du selbst noch zu spät kommst, beschließt du, deinen Teamkollegen zu folgen. Auf Ärger mit Thomas kannst du heute wirklich verzichten.
Und Clemens wird schon noch auftauchen, da bist du dir sicher. So mehr oder weniger jedenfalls.
Auf dem Trainingsplatz angekommen beginnst du auch gleich damit, deine obligatorischen Runden zu laufen. Fängst dir einen kurzen, mahnenden Blick von Schaaf ein - bist aber wohl doch noch im Rahmen geblieben, denn du wirst nicht zu ihm zitiert.
Ein paar deiner Mannschafskollegen werfen dir den einen oder anderen überraschten Blick zu. Ist nicht unbedingt deine Art, auf den letzten Drücker aufzutauchen.
Heute kümmert dich das allerdings wirklich nicht das kleinste bisschen. Rennst einfach stur deine Runden, immer weiter und weiter. Legst keinen Wert darauf, dass jemand mit dir läuft und zeigst das wohl auch ziemlich deutlich.
Jedenfalls versucht keiner der anderen, zu dir aufzuschließen und ein Gespräch mit dir zu beginnen. Auch wenn Torsten und Per dich jetzt doch eindeutig neugierig und wohl auch ein bisschen alarmiert ansehen.
Außerdem bemerkst du, dass die beiden genau wie du immer wieder unruhig in Richtung Spielertunnel blicken. Clemens ist immer noch nicht da.
Was bedeutet, dass er inzwischen nicht nur unpünktlich, sondern ganz eindeutig einfach zu spät dran ist. Viel zu spät sogar, als im nächsten Moment Thomas‘ Pfeife ertönt und ihr euch um ihn herum sammelt.
Gerade, als du bei dem Pulk, der sich inzwischen um den Trainer gebildet hat, zum Stehen gekommen bist, siehst du ihn. Clemens kommt aus der Kabine.
Schleicht richtiggehend in eure Richtung. Mit gesenktem Kopf. Und man sieht ihm ganz eindeutig an, dass er sich zu jedem einzelnen Schritt erneut durchringen muss. Du siehst zu Thomas.
Der sieht alles andere als begeistert aus. Mit ausdruckslosem Gesicht steht er da, mustert jeden einzelnen Schritt von Clemens, der langsam auf euch zukommt. Und auch, wenn Thomas einer der Menschen ist, deren Gesichtsausdruck du sehr schwer zu lesen findest, verheißt der Blick eindeutig nichts Gutes für Clemens.
Das wird Ärger geben. Vor allem auch, weil Clemens weder sonderlich motiviert noch fit aussieht. Im Gegensatz zu ihm bist du auf jeden Fall das Abbild des blühenden Lebens. So viel steht wohl fest.
Clemens ist immer noch verdammt blass, die dunklen Ringe unter seinen Augen sind auch nicht besser geworden, seit Clemens aus deiner Wohnung verschwunden ist. Noch nicht einmal seine Haare glänzen wie gewohnt.
Das Strahlen, das Clemens sonst normalerweise immer am Anfang des Trainings versprüht, fehlt irgendwie einfach. Oder ist zumindest so weit abgeschwächt, dass es kaum mehr wahrzunehmen ist.
Und trotzdem schlägt dein Herz bei seinem Anblick eindeutig schneller. Musst daran denken, dass ihr in ein paar Stunden vielleicht doch endlich reden werdet.
Und dass du auf jeden Fall dafür sorgen willst, dass Clemens nie wieder so aussieht, wenn er zum Training erscheint. Du merkst, dass die komplette Mannschaft Clemens‘ Auftritt inzwischen bemerkt hat und die Stille, die in der Gruppe herrscht, ist schon beinahe gespenstisch.
Clemens sieht immer noch nicht auf, als er schließlich endlich bei euch ankommt. Reiht sich stumm zwischen Sebastian - Prödl - und Philip ein. Sieht weder in Thomas Richtung - noch erwidert er deinen eingehenden Blick.
Was dir doch einen kleinen Stich versetzt.
Im nächsten Moment und nach einer kleinen, eindeutigen Pause, beginnt Thomas schließlich zu reden. Erwähnt Clemens erst mal nicht. Du bist dir allerdings ziemlich sicher, dass das nicht so bleiben wird.
Thomas erklärt nur kurz das heutige Programm, schickt euch dann zum Dehnen.
Ruft Clemens zurück. Mehrere mitleidige Blicke werden in Clemens‘ Richtung geworfen. Auch dir tut er leid, wie er jetzt vor Thomas steht und offenbar eine Standpauke vom Feinsten zu hören kriegt.
Und tatsächlich scheint Clemens immer weiter in sich selbst zusammenzusinken, je länger Thomas auf ihn einredet. Er nickt nur ein paarmal eingeschüchtert und schuldbewusst. Zieht die Schultern zusammen.
Also Thomas ihn endlich entlässt, sprintet Clemens schließlich förmlich davon, holt seine Aufwärmrunden quasi im Eiltempo nach. Ohne sich nach links oder rechts umzusehen. Scheinbar.
Denn du hast den kurzen Blick in deine Richtung dieses Mal doch ganz eindeutig bemerkt.
Auch wenn Clemens gleich darauf wieder weggesehen hat, als du seinen Blick erwidert hast. Und du so nicht die Chance hattest, den Blick wirklich einschätzen zu können. Leider.
„So, und jetzt raus mit der Sprache, Basti - was ist mit Clemens los? Warum sieht er aus wie rückwärts gegessen? Und du - ganz nebenbei - auch nicht viel besser?“, reißt dich eine Stimme jetzt aus deinen Gedanken.
Per steht hinter dir.
Sieht dich fragend an - und sieht eigentlich nicht so aus, als würde er sich jetzt von dir einfach abwimmeln lassen.
Ist dir aber im Moment eigentlich völlig egal, wie Per gerade aussieht.
„Frag ihn doch selbst…“, erklärst du ihm also nur Schulter zuckend und setzt dich dann in Bewegung.
Schließt zu Mesut auf, der dich ohnehin schon die ganze Zeit so seltsam ansieht. Und hoffst, dass wenigstens der erst mal keine dämlichen Fragen stellt.
* * *
Das Training war anstrengend. Vor allem, weil du auf heute wirklich nicht lange geschlafen hast. Und sich das bei dir immer auswirkt.
Trotzdem sind die einzelnen Übungen irgendwie auch an dir vorbeigezogen, ohne dass du es so richtig mitbekommen hast. Warst in Gedanken eh die meiste Zeit bei dem, was nach Ende des Trainings passieren würde.
Und bist heilfroh, dass Mesut da war. Der dir die Übungen noch mal erklärt hat, wenn es nötig war. Und der sich die größte Mühe gegeben hat, dich abzulenken und dafür zu sorgen, dass du nicht ständig in Clemens‘ Richtung gestarrt hast.
Der war allerdings eben so wenig bei der Sache wie du selbst. Hat sich größtenteils an Per gehalten - und hat sich trotzdem den einen oder anderen bösen Blick von Thomas eingehandelt. Weil er wieder unkonzentriert und teilweise auch ziemlich unglücklich auf dem Spielfeld agiert hat.
Sich viel zu leicht hat austricksen lassen. Und so offensichtlich mit dem Kopf nicht bei der Sache war.
Du lässt dich erst mal einfach auf die Kabinenbank sinken, atmest ein paar Mal tief durch und nimmst ein paar tiefe Züge aus deiner Wasserflasche, bevor du dich langsam ausziehst, um zu duschen.
Kannst dir Gott sei Dank Zeit damit lassen. Weil Clemens nicht so schnell hier auftauchen wird. Hat von Schaaf natürlich noch Strafrunden aufgebrummt bekommen. Die er jetzt erst mal abarbeiten muss.
Was dir die Möglichkeit gibt, endlich mal wieder völlig entspannt und ohne, dass du die ganze Zeit über darauf achten musst, dass deine Augen nicht im falschen Moment an den falschen Ort wandern, duschen zu können.
Ist mal ne ganz schöne Abwechslung, findest du.
Und zwar eine, die du unbedingt mal ausnutzen solltest. Also lässt du dir wirklich viel Zeit und als du aus der Dusche kommst, sind wirklich nur noch eine Handvoll deiner Teamkollegen da.
Mesut zum Beispiel, der auf dich gewartet zu haben scheint.
„Na dann, Alter - ich wünsch dir gleich viel Glück oder was auch immer…“, murmelt er, weiß anscheinend nicht so recht, wie er mit dir umgehen soll, nachdem du ihm dann irgendwann doch alles erzählt hast und du ihn davon abgehalten hast, Clemens beim Trainingsspiel übel zuzurichten, „…und wenn was ist, kannste mich jeder Zeit anrufen, weißt du ja…“
Du nickst, lächelst leise. Ist schön, zu wissen, dass Mesut für dich da ist. Auch wenn er dich nicht immer ganz versteht.
„Na dann, mach’s gut…ich geh dann mal…“, verabschiedet Mesut sich und du hörst schon gar nicht mehr richtig zu, nickst nur noch einmal abgelenkt in Richtung deines besten Freundes, als jetzt Clemens den Raum betritt.
Völlig verschwitzt. Und die unnatürlich roten Wangen lassen nur noch deutlicher werden, wie blass Clemens tatsächlich ist. Sein Blick streift dich nur kurz und du schaffst es wieder nicht, Clemens Gesichtsausdruck zu interpretieren.
Während Clemens sich auf den Weg unter die Dusche macht, schlüpfst du in deine eigenen Klamotten. Die Kabine leert sich unterdessen immer mehr.
Und am Ende sitzt du völlig allein auf der Kabinenbank und wartest, bis Clemens endlich aus der Dusche kommt. Dieses Mal setzt du dich allerdings vorsorglich so, dass du im Notfall als Erster an der Kabinentür wärst.
Nur für den Fall, dass Clemens sich doch wieder dafür entscheiden sollte, dass jetzt nicht der perfekte Zeitpunkt für ein Gespräch mit dir ist.
Und das wirst du dieses Mal wirklich beim besten Willen nicht mehr zulassen.
Schließlich dauert es jedoch nicht lange, bis Clemens wieder aus der Dusche kommt. Mit einem Handtuch um die Hüfte geschlungen betritt er die Kabine, sieht dich direkt an.
Seltsam nachdenklich. Unsicher. Kaut auf seiner Unterlippe herum.
Und bleibt schließlich vor dir stehen. Sieht dich noch immer an.
Du versuchst, dich nicht allzu sehr davon abzulenken, dass Clemens hier quasi nackt vor dir steht. Und dich noch immer einfach nur ansieht. Ohne irgendetwas zu sagen.
„Basti…ich…ich will nur…bevor…ich will nur wissen. Du…gestern am Telefon, das klang so…du willst mich aber nicht einfach nur ins Bett kriegen, oder? Ich…ich hab nur Angst davor, dass...dass das wieder…“, stottert Clemens schließlich hervor, bricht dann ab.
Du kannst ihm erst nach ein paar Sekunden folgen. Siehst Clemens jetzt erst mal fassungslos an. Springst dann auf - was Clemens einen Schritt zurück weichen lässt.
„Das…das…du bist so ein verdammter Vollidiot, Clemens…das glaub ich ja jetzt nicht…“, erklärst du ungläubig, schreist Clemens schon fast an - kannst aber nichts dagegen tun, weil dich diese Frage einfach nur verletzt hat.
Weil du Clemens nie einen Grund dafür gegeben hast, so etwas von dir zu denken.
„…Verdammt noch mal, Clemens. Ich…ich weiß, dass du deinen verdammten Kaffee mit viel Milch aber ohne Zucker trinkst. Ich weiß, dass du vor jedem Spiel erst den linken und dann den rechten Schuh anziehst, obwohl du eigentlich kein abergläubischer Mensch bist. Ich weiß, dass du lieber Reis als Nudeln oder Kartoffeln ist. Und dass diese eine Strähne, die dir manchmal in die Stirn hängt, dich regelmäßig in den Wahnsinn treibt, wenn sie nicht richtig liegt…“, zählst du schließlich auf, machst einen Schritt auf Clemens zu, „…Und glaubst du wirklich, dass mich irgendetwas von diesem Scheiß auch nur irgendwie interessieren würde, wenn ich nur mit dir ins Bett wollen würde? Clemens, du bist echt einfach nur…“
Aufgebracht schüttelst du den Kopf, siehst Clemens aus Zorn funkelnden Augen an.
„Ach weißt du was, vergiss es einfach…ich verpiss mich jetzt, auf so etwas hab ich echt keinen Bock…!“, erklärst du fest, packst deine Tasche und bist im nächsten Moment auch schon auf dem Weg in Richtung Parkplatz.
Stürmst an Boro vorbei, der wie schon beinahe erwartet an der Wand gegenüber der Kabinentür lehnt.
Ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen gehst du an ihm vorbei.
„Weißt du was - so langsam glaube ich echt, ihr beide habt euch wirklich irgendwie verdient…“, drehst du dich schließlich doch noch einmal zu Boro um.
Der dir nur verwirrt nachsieht. Und bevor Tim auch nur etwas auf deine Worte erwidern kann, bist du auch schon um die nächste Ecke verschwunden.
Und ein paar Sekunden später schon auf dem Weg nach Hause.