Verblendung von Stieg Larsson

Jan 17, 2011 21:13

Natürlich ist es kein großer Gesellschaftsroman, wie ihn der Spiegel betitelt hat. Obwohl die Genre-Diagnose schwer fällt. Gemischt ist hier vieles: ein vielschichtiger Detektivroman, actiongeladener Thriller, klassischer „locked-room“ Rätselkrimi und sogar eine Familiensaga. Zwei meisterhaft verflochtene Handlungslinien: ein Familiengeheimnis um ein Verbrechen in der ländlichen Idylle einer abgeschiedenen Insel vor vierzig Jahren und eine journalistische Ermittlung um wirtschaftliche Kriminalität. Das Ganze angereichert mit eisigen Landschaften Schwedens, Features aus redaktionellen Hinterhöfen, dezenten Sexgeschichten und Gesellschaftskritik. Wer es dynamisch mag, muss jedoch Geduld haben: das Buch fängt auf skandinavische Weise gemächlich an, erst nach der Hälfte geht’s richtig rund, und dann beißt man sich in die Fingernägel vor Spannung.

Weder abgedroschene Bibelverweise, noch detaillierte Einkaufslisten und Beschreibungen des Ikeakatalogs können das Werk zerstören. Auch wenn manches gekürzt werden könnte, Larsson ist einer der Autoren, die es sich leisten können, zwanzig Seiten lang über den Clan Vanger zu erzählen, als wäre es der Stammbaum Jesu, über die journalistische Ethik zu philosophieren und noch hundert Seiten weiter zu schreiben, nachdem das Geheimnis gelüftet wurde. Er besitzt nicht nur eine unermüdliche Fantasie, sondern auch das Gespür eines virtuosen Erzählers. Die komplexe Story ist gekonnt aufgebaut, und profitiert nur von der langsamen Einführung. Pausen und Perspektivensprünge an richtigen Stellen sorgen für Spannung, genau wie unaufdringliche aber effektive Cliffhanger. Larsson beherrscht die Kunst, den Leser mit offenem Mund gucken zu lassen.

Am meisten bestechen jedoch die Eindringlichkeit und vor allem die Moral der Charaktere. In modernen Krimis ist das Gute vom Bösen oft nicht zu unterscheiden, auch der detective muss hard-boiled und ein Arschloch sein, sonst ist es unrealistisch. Zum Beispiel habe ich vor kurzem „Headhunter“ von Jo Nesbo gelesen. Das Buch fesselt, keine Frage, jedoch bleibt nach dem Lesen ein scheußlicher Beigeschmack. In der Millenium-Trilogie erwischt man zwar eine Dreckssau, egal wo man hinspuckt. Aber wie schön ist es doch, wenn der Protagonist der Moral nicht ganz ausländisch ist. Obwohl Kalle Blomkvist durchaus Schwächen hat: guter Liebhaber, aber nicht der beste Vater und total beschissener Ehemann, ist er aufrichtig und integer, a good guy. Was Salander betrifft, ist sie eine der coolsten Frauenfiguren in Literatur überhaupt. Eine kratzbürstige Outsiderin mit scharfem Verstand und der Fähigkeit aus jedem Grab lebendig herauszukommen, und dabei doch so fassbar-menschlich.

Ein wunderbares Detektivmärchen für Erwachsene.

P.S. Das zweite Buch ist sogar noch besser. Und das dritte lese ich trotz der drohenden Klausurenphase bald zuende :)

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