Über Shakespeare

May 27, 2009 17:57

"[ Es gab wüstere Jahrhunderte als das 16., mit dem die Neuzeit begann. Etwa das 14. mit der Pest, für Deutschland das 17. mit dem 30jährigen Krieg oder das 20. mit der Neigung zu Massenmorden. Aber es gab selten ein Jahrhundert, das historisch so janusköpfig gespalten war wie dieses. Noch kämpften die alten Mächte um ihr Leben und wußten nicht, dass sie zum Untergang verdammt waren: Die Mittelmeerkultur, das universale Reich, die universale Kirche und das mittelalterliche Weltbild. Aber schon waren die neuen Mächte nicht mehr totzukriegen : die Weltwirtschaft, die die Erde umspannte, der Nationalstaat, der Protestantismus und die Wissenschaft. Die Menschen des 16. Jahrhunderts erlebten beides zugleich; kein Wunder, dass die Spannung sie oft hysterisch machte.]
Ihren stärksten Ausdruck fand dieses Spannung im größten Lichte der Menschheit, den Mann aus Stratford names William Shakespeare. Seine Stücke spielen in Italien, aber auch auf den Bermudas, im antiken Rom, in Athen und in Troja und im mittelalterlichen London. In ihnen tummeln sich moderne Politiker und ungläubige Machiavellisten, aber auch Hexen, Dämonen, Geister und Kobolde. Sie zeigen Beispiele zärtlichster Liebe und mörderischer Brutalität, unglaublicher Treue und kaltblütigster Prinzipienlosigkeit. Die Welt kennt keine heitereren Bilder einer unbeschwerten Gesellschaft als seine Komödien und keine düstereren Höllen der MOrdlust und der Verzweiflung als seine Tragödien. Seine Stücke sind ebenso heidnisch wie christlich, ebenso prostestantisch wie katholisch, ebenso individualistisch wie feudalistisch, ebenso machiavellistisch wie moralisch, ebenso aufgeklärt wie abergläubisch und ebenso modern wie traditionell. Zwar glaubte er noch an das ptolemäische Weltbild, aber das Prinzip von Kopernikus´ Revolution hat er immer wieder dargestellt: nämlich dass der Augenschein trügt und unsere größten Sicherheiten im Nu in bloße Chimären (Trugbilder) verwandelt werden können. In seinem Werk finden sich alle Spannungen, die die Geburt einer neuen Welt freisetzt. Und deshalb muss man ihn lesen oder noch besser durch den Kauf einer Theaterkarte persönlich besuchen, dann kann man erleben, was man hier nur liest."

- Bildung (Alles, was man wissen muss) von Dietrich Schwanitz - Seite 157/158 -

quotes, 2009, bücher

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