Tour durch Belarus: Vilejka [DE]

Sep 26, 2011 00:46

Auf dem Tisch vor mir steht ein Glas Honig. Schmackhafter, süßer, goldfarbener Bienensaft, den ich gestern kaufte... Am Straßenrand, irgendwo zwischen Maładečna und Čyść, saßen zwei Großmütterchen und ein älterer Mann und boten Kartoffeln, Pflaumen, Honig und jede Menge Pilze feil. Warum so viele Pilze, ist angesichts der Pilzsaison nicht schwer zu verstehen. Die Pilze jedenfalls lehnte ich dankend ab, nicht weil ich Angst vor Radioaktivität hätte, sondern eher davor, mich zu vergiften. Wer weiß, woher die Pilze stammten oder wer sie gepflückt hatte... dafür beschloss ich spontan ein paar Kartoffeln und außerdem Honig zu kaufen. Und jetzt steht dieses Honigglas vor mir und ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich nötig war, fremden Leute Honig abzukaufen (mal ganz abgesehen davon, dass ich sowieso zu viel dafür zahlte). Was die Kartoffeln angeht, so gibt es keinerlei Bedenken. Von außen sieht man, ob sie essbar sind oder nicht. Und selbst wenn diese Menschen die Kartoffeln in einer Kolchose geklaut haben sollten, so kann man sie problemlos zubereiten und verzehren... aber Honig - wer hat ihn hergestellt und unter welchen Bedingungen?

Gestern unternahm ich meine erste Tour durch Belarus, wenn es auch eine recht kleine war und zudem ohne Übernachtung. Hrodna - Maładečna - Vilejka.Und nach Vilejka schaute ich noch im Dorf Illja vorbei (das dortige Literaturmuseum, das man mir empfohlen hatte, war zu meinem großen Bedauern schon geschlossen). Der Heimweg führte mich durch die Kleinstädte Čyść und Krasnaje. Mit Čyść verband mich einst ziemlich viel... und gestern sah ich Čyść zum ersten Male bei Tageslicht. Irgendwie ein modernes kleines Städtchen, hell und freundlich... von dort fuhr ich weiter, als es fast schon dunkelte, und rollte nach Hrodna  weiter über Vałožyn, jedoch nahm ich nicht den direkten Weg (über die "Schnellstraße" Minsk-Hrodna), sondern durch die Dörfer... so durchquerte ich das Heimatdorf des heutigen israelischen Präsidenten Shimon Peres, der in Višnieva geboren ist, welches zum Bezirk Vałožyn  (Gebiet Minsk) gehört, und danach Juraciški, Iŭje...

Aber Vilejka... ein sehr lebendiges Städtchen. Ich hatte den Eindruck, als seien alle Stadtbewohner auf den Beinen (was nicht wirklich verwundert, war es schließlich ein Samstag). Später stellte sich heraus, dass ich ohnehin nicht alles sah, was interessant hätte sein können. Das Heimatkundemuseum war geschlossen, obschon ich während der üblichen Öffnungszeiten dort war. Ich konnte sowohl der katholischen Messe als auch dem orthodoxen Gottesdienst beiwohnen. In der katholischen Kirche gab es interessanterweise viele kleine (sehr kleine!) Kinder, so daß ich anfangs glaubte, es handele sich um eine Massentaufe. Anschließend spazierte ich eine Weile durch die Stadt, den zentralen Stadtpark, schlenderte über den Markt (dort gibt es offenbar einen "offiziellen" Markt jenseits des Parks, während man auf dem zentralen Platz direkt zwischen den beiden Kirchen Kartoffeln und anderes Gemüse feilbot). Und auf diesem Platz - es war noch früh am Tage - bereiteten sich Folkloregruppen auf ihren Auftritt vor, ringsum boten regionale Firmen ihre Lebensmittel und Produkte an... mit einem Wort: Dažynki [= das polnische und belarussische Erntedankfest].

Ich ging weiter ins Gymnasium Nr. 1 und ins Gymnasium Nr. 2. Das Gymnasium Nr. 2, das die Bezeichnung "Gymnasium" erst seit wenigen Jahren führen darf, ist eine recht große Lehranstalt, ein in orangenen Farbtönen gehaltenes Gebäude, das ich fast ungehindert betreten konnte. Hielt man mich etwa für den Vater eines Schülers? Na ja, etwas später kam in der Tat jemand auf mich zu und wollte wissen, ob ich mit meinem Kind zu irgend so einem Seminar wolle...  Doch in der Tat verblüfft es, dass ich ungehindert durch das Schulgebäude spazieren, sogar die Aula photographieren konnte, ohne dass sich jemand daran gestört hätte.

Ich mag belarussische Schulen. Ich will nicht abstreiten, dass es in Belarus nicht auch der Verwahrlosung anheimfallende Schulen gebe, doch die Eindrücke, die ich als jemand habe, der schon viele Orte in diesem Land besucht hat, fallen recht positiv aus: Selbst wenn allen bewusst ist, dass für den Unterhalt der Einrichtung kein Geld vorhanden ist und sein wird, so befinden sich die Schulen meistens - oder doch zumindest häufig - in einem gepflegten Zustand. Dies gilt sowohl für das Gebäude als auch für den Garten. Der Garten ist ein unerlässlicher Bestandteil des belarussischen Schullebens (wie mir scheint), wohingegen in Deutschland nicht jede Schule über einen eigenen Garten verfügt. Das Gymnasium Nr. 2 in Vilejka befindet sich außerdem am Stadtrand, in der Natur, in unmittelbarer Nähe zum Wald (weswegen die Schule auch ihre eigene Forstwirtschaft führt, was nur Menschen aus anderen Ländern, wo es das nicht gibt, verwundern mag). Und was das deutsche Schulsystem ebenfalls nicht kennt, sind die "Ehrenafeln". Goldene und andere Medaillen. Ich stand ziemlich lange vor einer Wand, die den besten Schüler des Gymnasiums gewidmet war, und betrachtete fasziniert die Portraits und las dabei die zahlreichen Urkunden, die die Schüler für den ersten, zweiten, dritten Preis in irgendwelchen Olympiaden für unterschiedliche Fächer erhalten hatten... ich verließ die Schule wieder, lief langsam um das Schulgebäude herum, betrachtete es von allen Seiten, verabschiedete mich vom Gymnasium Nr. 2, wollte mich schon von Vilejka verabschieden, als ein Hochzeitskorso vorbeifuhr...

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