Quartalsbericht Nr. 3 - Maerz

Apr 01, 2004 10:18

Schon bald geht es zurueck nach hause, nach Deutschland. Bis zum Tag meines Heimfluges sind es bereits weniger als drei Monate, und es zeigt sich, wie wahr die uns vor dem Austausch vorgestellte Theorie des Ablaufes ist: nach dem ersten Tag, an dem das Heimweh wohl am staerksten ist, kommt eine Phase, in der alles neu und unheimlich ineressant erscheint, diese wird gefolgt von einer erneuten, jedoch weniger starken Welle des Vermissens, welche nach etwa einem halben Jahr mit der Zeit mehr und mehr abnimmt. Mit den letzten drei Monaten kommt wohl die Zeit des Austausches, die am schnellsten verfliegen wird! Dies bedeutet fuer mich: Geniesse nicht nur jeden Tag, sondern jede Minute, die dir hier noch bleibt...

Wie man dem oberen Abschnitt bereits entnehmen kann, geht es mir zur Zeit wirklich gut. Nach den Ferien, die bis Anfang Februar gingen, hatten wir nur zwei Wochen Schule, welche von einer weiteren Woche Karnevalsferien gefolgt wurden. Diese Zeit verbrachte ich nicht nur mit meinen brasilianischen Freunden, sondern ebenfalls mit meinem Cousin, der fuer drei Wochen aus Deutschland gekommen war, um mich zu besuchen. Karneval an sich war natuerlich ein absolut einzigartiges Erlebnis und total anderes als in Deutschland...die Karnevalszeit hier in Rio de Janeiro ist, neben den Fussballländerspielen, das groesste Fest des Jahres. Im Gegensatz zu Deutschland geht man in Rio in das “Sambodromo”, wofür man eine sogar fuer Europaeer, recht hohe Summe zahlt. Das „Sambodromo“ muss man sich wie eine Strasse vorstellen, an deren beiden Seiten riesige Tribunen aufgebaut sind. Dort finden Paraden sogenannter “Sambaschulen” statt. Die besten dieser Schulen nehmen an einer Art Wettbewerb teil. Es gilt, die beste Musik, die besten Kostueme, Choreografien und den besten Auftritt insgesamt hinzulegen. Der Gewinner erhaelt ein recht hohes Preisgeld. Um bei diesem Wettbewerb so gut wie nur moeglich abzuschneiden, verbringen diese Sambaschulen den Rest des Jahres damit, sich fuer den Umzug im naechsten Jahr vorzubereiten. Jede dieser Sambaschulen wurde von einer “Favella” (Armenviertel) gegruendet, jedoch treten heutzutage Menschen aus allen vorstellbaren Schichten zusammen auf, ohne dem Status der anderen auch nur das geringste Gewicht beizumessen. Wir, das heisst mein Cousin, die im Januar nach Nova Friburgo gekommene Suedafrikanerin Nicole und ich, waren am zweiten Karnevalstag im Sambódromo und durften dieses aussergewoehnliche Spektakel bestaunen. Zu unserem grossen Bedauern regnete es fast die gesamte Nacht, was uns aber trotzdem nicht den Spass an den wunderschoenen Bildern rauben konnte. Das einzige, was nach einiger Zeit schwer zu ertragen war, war die Musik, denn jede Sambaschule hat ein Lied, welches waehrend ihres gesamten Auftrittes immer und immer und immer wieder wiederholt wird. Nun muss man sich vorstellen, dass jede dieser Schulen zwischen ein und eineinhalb Stunden lang auftrat, und man waehrend dieser Zeit der Laenge des Liedes entsprechend unzaehlige Wiederholungen hoeren musste. Zu all dem steht man auch noch fast die gesamte Zeit, und wenn man bedenkt, dass wir um 18:00 Uhr gekommen und gegen 4:00 Uhr morgens, noch vor dem Ende, gegangen sind, ist es nicht ueberraschend, dass wir am naechsten Tag erst gegen 15:00 Uhr aufgewacht sind! Ein Besuch des Sambódromo ist meiner Meinung nach auf jeden Fall empfehlenswert, auch wenn es mir nun nicht mehr schwer faellt nachzuvollziehen, warum ein Grossteil der Brasilianer versucht vor dem Karneval wegzulaufen, denn den ganzen Trubel jedes Jahr aufs Neue erleben zu muessen ist sicherlich sehr anstrengend...

Den Rest des Besuches meines Cousins verbrachten wir in Begleitung brasilianischer Freunde in einigen von mir auf der Nordostreise besuchten Plaetzen, die ich dieses Mal allerdings aus einer absolut anderen Perspektive erleben durfte. So lernten wir beispielsweise einige Brasilianer, aber auch sehr sehr viele Touristen aus allen moeglichen Ecken der Welt kennen, mit denen wir teilweise sogar E-Mail Adressen ausgetauscht haben, um spaeter den Kontakt aufrecht halten zu koennen. Sehr interessant war es auch, mehr ueber andere Moeglichkeiten einen Austausch zu machen zu erfahren. So lernten wir z.B. eine Frau kennen, die schon in mehreren Laendern war, wo sie an Schulen Englischunterricht gab. Dadurch wird man, wie sie sagte, nicht reich, aber man lernt viele Kulturen und Sprachen kennen und hat ein sehr farbenfrohes Leben. Ein anderes Maedchen hat ihre Ausbildung als Krankenschwester beendet und reist jetzt ein halbes Jahr durch Lateinamerika, von Stadt zu Stadt, ohne vorher zu wissen wo sie bleiben wird und wohin sie als naechstes aufbrechen wird. Unter anderem haben wir auch ein deutsches Studentenpaar getroffen, welches sich dadurch kennen gelernt hat, dass beide am Jahresaustausch von Rotary teilgenommen haben. Erstaunlich, wo man nicht alles ehemalige Rotaryaustauschschueler findet!
Was ich ebenfalls absolut neu und anders erlebte war die Stadt Rio de Janeiro. Dies war mein erster Aufenthalt in der Grossstadt, bei dem ich weder bei meiner Gastfamilie war, noch mit einer komplett durchplanten Tour, sondern selbst entscheiden konnte, wohin wir gehen und was wir wann und wo machen. Wir wohnten in einem kleinen Hotel in Copacabana, einem der „guten“ Viertel von Rio, und bewegten uns praktisch nur mit oeffentlichen Verkehrsmitteln fort. Ich glaube, erst jetzt, nachdem ich die Stadt auch auf eigene Faust erkundigt habe, kann ich sagen, dass ich Rio de Janeiro wirklich kenne, wobei es immer noch vieles gibt, was ich nicht gesehen habe und womoeglich auch vor meinem Abflug nicht mehr sehen werde.
Alles in allem muss ich zu Besuchen von Freunden oder Verwandten aus dem Heimatland waehrend des Austausches sagen, dass, zumindest nach meiner Erfahrung, dies nur positive und neue Aspekte mit sich bringt. Und man kann auch nach dem Austauschjahr mit Freunden und Verwandten wiederkehren, wenn es einem gut gefallen hat, denn zumindest Brasilien ist so gross, dass man hier jahrelang Urlaub machen koennte und man haette immer noch nicht alles gesehen.
Sowohl meine Gastfamilie, als auch mein gesamter Freundeskreis hat sich ueber den Besuch meines Cousins gefreut und bereits angekuendigt, auch ihm einen Besuch abzustatten, wenn sie mich besuchen kommen.
Die Gastfamilie, von der hier die Rede ist, ist immer noch die erste und bis jetzt die einzige Familie, bei der ich war. Allerdings hat mein Counselor nun endlich mit der Familie meiner guten Freundin und Klassenkameradin Laila gesprochen und sein Ok fuer einen Umzug in diese Familie gegeben. Nun ist leider ein leichtes Dilemma entstanden, denn ich fuehle mich sehr wohl mit meiner momentanen Familie, und auch sie scheint sich an mich gewoehnt zu haben und gut mit mir auszukommen. Als ich vor kurzem ein gesamtes Wochenende nicht zuhause war und meine Gastmutter erst am Montag nach der Schule gesehen hatte, sagte sie mir, dass sie mich waehrend dieser kurzen Zeit bereits wirklich vermisst haette. Dies macht es mir keineswegs leichter ihr sagen zu muessen, dass ich jetzt doch in eine andere Familie gehen werde, um doch noch einen zweiten Eindruck vom Familienleben hier in Brasilien zu bekommen...

Was ich waehrend dieser gesammten Zeit sicherlich nicht wechseln werde ist meine Schule, wobei ich mit dem Ende des letzten Jahres zumindest die Klasse wechseln musste, denn meine erste Klasse ist nun in dem letzten Schuljahr, in dem die Schueler unheimlich viel lernen muessen und auch wesentlich mehr Wochenstunden haben, was fuer uns Austauschschueler nicht unbedingt notwendig ist. Aus diesem Grund sind alle Austauschschueler in neue Klassen im vorletzten Schuljahr gekommen. Da ich bereits seit Mitte Februar in dieser Klasse bin, hatte ich schon genuegend Zeit um mich mit meinen neuen Klassenkameraden anzufreunden und guten Kontakt herzustellen. Die Leute in dieser Klasse sind wirklich nett, auch wenn sie mir weniger interessiert in uns Austauschschuelern scheinen als meine erste Klasse. Dies kann aber auch ein taeuschender Eindruck sein, weil ich schon laenger hier bin und die Sprache beherrsche. Mit meinen alten Klassenkameraden sehe ich mich regelmaessig in den Pausen, und mit engeren Freunden auch nach der Schule oder an Wochenenden, wobei es mir in der neuen Klasse manchmal schon fehlt, wie der eine oder andere von meinen ehemaligen Mitschülern waehrend des Unterrichts zu scherzen vermochte. Meine besten Freunde sind allerdings immer noch die, mit denen ich mich in meiner ersten Klasse ganz zu Beginn des Jahres angefreundet habe, aber dies ist ganz natuerlich, denn sie waren die ersten, die ich hier in dem damals noch voellig fremden Land kennenlernte. Ausser mir ist noch die oben erwaehnte Suedafrikanerin Nicole in dieser Klasse, allerdings ist dies mehr theoretisch als praktisch, denn sie kommt kaum zum Unterricht, was wohl groesstenteils daran liegt, dass sie ihre schulische Ausbildung schon im letzten Sommer abgeschlossen hat und es nicht mehr gewohnt ist, regelmaessig zum Unterricht zu kommen. Ich versuche ihr etwas portugiesisch beizubringen, allerdings ist sie nicht genug daran interessiert, die Sprache zu lernen, und engagiert sich folglich auch nicht. Zum momentanen Stand meiner Portugiesischkenntnisse ist zu sagen, dass ich vor einer Woche einen Aufsatz in Portugiesisch mitgeschrieben habe und 87,5% der gesamten Punktzahl erhalten habe. Besser als ich haben von 43 Schuelern nur vier abgeschnitten.

Zu meinen Aktivitaeten sind nun noch Capoeira- und Schlagzeuguntericht hinzugekommen. Capoeira ist eine brasilianische Kampf-Tanz-Sportart, welche hier zur Zeit der Kolonisierung entstand. Da Sklaven oefters unter sich kaempften und ihre “Herren” nicht wollten, dass sie sich verletzten, wurde eine Mischung aus Kampf und den religioesen, aus Afrika stammenden, Taenzen gemacht, welche Capoeira (deutsch: Haehnenkampf) genannt wurde. Bei dieser Sportart werden zwar viele Elemente einer Kampfsportart benutzt, allerdings ist es verboten, einen anderen Taenzer absichtlich zu beruehren oder gar zu verletzen.
Desweiteren mache ich, wie schon im letzten Bericht gesagt, drei Mal pro Woche Fussball und zwei Mal Gesangsunterricht, allerdings habe ich zumindest voruebergehend mit dem Gitarrenunterricht aufgehoert, da mir der Lehrer nicht all zu sehr gefiel. Zudem haben wir Austauschschueler nun doch eine Moeglichkeit gefunden an einem sozialen Projekt teilzunehmen. Wir werden ab naechster Woche in einem Kindergarten fuer Kinder aus Armen Familien aushelfen. Die Eltern dieser Kinder haben nicht genuegend Zeit, um mit den Kindern zu spielen und sie vielleicht auch einfach nur mal in den Armen zu halten. Dank all dieser Aktivitaeten ist meine Woche mehr als gefuellt mit Hobbies, die mir alle sehr viel Spass bereiten, und die ich teilweise so vielleicht nicht in Deutschland ausueben koennte.

Zum hiesigen Rotary ist nicht so viel neues zu sagen. Letzten Freitag (26.03.2004) ist mein Gastclub 24 Jahre alt geworden, was im Vergleich zum Club Marburg/Lahn, der ja letztes Jahr sein 50-jaehriges Jubilaeum hatte, sehr jung ist. Wenn man allerdings den Altersunterschied der Laender an sich sieht, ist dies nicht sehr verwunderlich.
In der ersten Aprilwoche werde ich nun auch meinen Deutschlandbericht vor unserem und den zwei anderen Rotaryclubs hier in Friburgo halten. Schon Ende des letzten Jahres hatte ich meinen Counselor nach einem Termin dafuer gefragt, allerdings hat es, so wie so ziemlich alles hier, einige Zeit gedauert, bis ich eine Antwort hatte...
Im Mai werden wir dann auch unsere Distriktkonferenz haben, die nach dem in einem der vorherigen Berichte erwaehnten Treffen in Araruama das dritte Zusammenkommen aller Austauschschueler in dieser gesamten Zeit sein wird. Das zweite Treffen war erst vor kurzem im Maerz, allerdings war dies nur ein eintaegiges Treffen, welches von 9:00 bis um 13:00 Uhr ging. Informatives gab es dieses Mal nur fuer die Eltern der zukuenftigen Outbounds. Die Out- und Inbounds selbst wurden fuer diesen gesamten Zeitraum mit einem Spiel beschaeftigt, welches einen Vorbereitungszweck auf den Austausch haben sollte und sich als recht amuesant herausstellte. Es wurden Situationen nachgespielt, in die immer eine Person als Austauschschueler hereinkam, und versuchen sollte, sich moeglichst passend zu verhalten. Hinterher wurde das Verhalten besprochen und ueber andere Reaktionsmoeglichkeiten diskutiert.
Ansonsten muss ich sagen, dass, wie man sieht, weiterhin nur sehr wenig Initiative von Seiten Rotarys kommt, und wir hier in Friburgo sogar etwas zu wenig Aufmerksamkeit von unserem Counselor bekommen. Allerdings ist dies auch verstaendlich, denn er ist nicht nur unser aller Counselor und Jugenddienstbeauftragter des Clubs sondern auch noch Vize-Chairman des Distriktes und der Vertreter des hiesigen Gouverneurs. Das einzige, worueber man nachdenken sollte, ist, ob es wirklich sinnvoll ist, all diese Taetigkeiten gleichzeitig auszuueben.
Was noch interessant zu erwaehnen waere, ist, dass unsere Rebound-Freunde aus Friburgo beschlossen haben hier in unserem Distrikt eine Rotexgruppe zu gruenden. Da wir in Deutschland bei unseren Vorbereitungen einigen Kontakt zu Rotex hatten und sie hier bis jetzt nur zu zweit sind, versuche ich, obwohl ich bis jetzt noch In- und nicht Rebound bin, etwas bei der Organisation des Ganzen zu helfen. Dies ist allerdings momentan recht schwierig, da diese beiden Rebounds im letzten Jahr in der Schule sind, und, wie schon erklaert, deshalb sehr viel lernen muessen. Trotz dieses Hindernisses geht es voran, auch wenn nur sehr langsam.

Zu guter Letzt muss ich sagen: je mehr ich schreibe, desto klarer wird mir, dass es nicht all diese Themen sind, ueber die ich schreiben sollte, sondern was in meinem Kopf vorgeht, bzw. inwiefern sich meine Gedanken/Denkweise durch die Erfahrungen, die ich hier mache, aendern.
Dies zu realisieren und mehr noch in Worte zu fassen scheint mir momentan nur sehr schwer moeglich, allerdings hoffe ich nach meiner Rueckkehr nach Deutschland mit der Zeit mehr und mehr diese Veraenderungen erkennen und nachvollziehen zu koennen.

Der Mensch braucht Zeit um alles, was er durchlebt, zu realisieren und zu verarbeiten. So ist es auch mit meinem Austausch, denn ich bin mir sicher, dass mir erst nach einiger Zeit wirklich klar werden wird, wie viel dieser Austausch mir in Wirklichkeit gebracht hat. Sicher ist eines: Meine Zeit hier war und ist auf jeden Fall eine sehr vielseitige und lehrreiche Erfahrung, fuer die ich ausserordentlich dankbar bin. Ich hoffe diese Dankbarkeit in Zukunft sowohl durch meine Praesentation, als auch moeglicherweise auf andere Weise zumindest ein wenig zeigen zu koennen und dadurch einen Teil meiner Erfahrungen von diesem Austausch mit Ihnen zu teilen.
Vielen Dank, liebe Rotarier des Clubs Marburg/Lahn, an jeden Einzigen von Ihnen, der mir dies ermoeglicht hat!
Bis zu unserem schon sehr baldigen Treffen,
Ihre Alexandra Pevzner
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