Sam beobachtete entsetzt, wie Dean langsam aber unabwendbar die Kontrolle verlor. Er erinnerte sich noch mit Schrecken daran, als Dean endlich nachgegeben hatte, endlich mit Sam darüber gesprochen hatte, wie er sich fühlte. Er hatte dem jüngeren Winchester von seinem Verdacht erzählt, von den Schuldgefühlen, daß sein Vater das eigene Leben gegeben hatte, damit er, Dean, jetzt noch atmete. Sam hatte entgeistert festgestellt, daß Dean nicht nur der Meinung war, sein Leben wäre weniger wert, weniger wichtig als das von Sam oder Dad, nein, Sam hatte ebenfalls erkannt, daß er, Sam, der sonst immer über alles sprechen konnte, keine Worte fand. Keine Worte des Trosts, keine Worte um seinen Bruder davon zu überzeugen, daß er verdammt nochmal genauso viel Wert war wie der Rest der Familie. Sam hatte einfach nur auf der Haube des Impalas gesessen. Er hatte nicht einmal die Kraft gefunden, seinem Bruder ins Gesiht zu sehen! Seit diesem Augenblickt hatte er nach den richtigen Worten gesucht. Doch er hatte nichts gefunden. Keine Worte. Aber eine andere Lösung. Eine Nicht-Winchester-Lösung. Aber ernsthaft, scheiss drauf. Dean war inzwischen endgültig in Tränen ausgebrochen und heulte ebenfalls Nicht-Winchester-mäßig. Das bestärkte Sam nur noch in seinem Entschluß. Vorsichtig, um seinem Bruder keine Schmerzen zuzufügen, zog er ihn näher an sich heran, umarmte ihn und drückte Deans Kopf sanft an seine Brust. Währenddessen bemerkte Sam einen dünnen Schlauch, der etwa zwei Handbreit unterhalb Deans Achsel in dessem Brustkorb verschwand - wahrscheinlich eine Drainage. Sam achtete besonders darauf, weder den Schlauch ansich noch die Stelle, wo ein dünner Verband den Eintrittspunkt in den Körper verdeckte, zu berühren. Der ältere Jäger wehrte sich nicht gegen Sams Umarmung. Er zögerte nur einen Augenblick und zu Sams Erstaunen entspannte er sich danach spürbar in den Armen seines kleinen Bruders und - Sam war sich da nicht ganz sicher - weinte noch mehr. Sam strich ihm sanft über den Kopf, versuchte Dean gar nicht mit Worten zu beruhigen. Was hätte er auch großartig sagen sollen? Egal ob diese Nah-Tod-Erfahrung eingebildet war oder nicht, Dean hatte seine Mutter wieder getroffen und Sam konnte die Tragweite des erneuten Verlusts nichteinmal ansatzweise begreifen. Wenn er sich vorstelle, Jess so wieder zu sehen... Er hatte sie geliebt, ja. Und es hatte ein starkes Band zwischen ihnen gegeben. Aber war dieses Band wirklich mit dem vergleichbar, das ein Kleinkind mit seiner Mutter verband? Sam bezweifelte das. Der jüngere Winchester ließ seine Hand ein wenig sinken, strich jetzt beruhigende Kreise über Deans nacktem Rücken. Aber sein Bruder war anscheinend noch lange nicht fertig. Zum Teil fühlte sich Sam selbst auch miserabel. Er hatte seinen Bruder noch nie in so schlechter Verfassung gesehen - emotional gesprochen. Andrerseits genoß er die Nähe, zog selbst stärke aus der Tatsache endlich einmal auch für Dean dasein zu können. Er fühlte sich stark. Sicher. Gefestigt. Sam dachte an die leise, nagende Stimme. Irgendetwas daran war seltsam. Anders. Er wurde den Verdacht nicht los, daß das vielleicht nicht nur sein Unterbewußtsein war. "Hope will Zweifel in dir pflanzen. Dann kann sie leichter mit dir fertig werden. Dann hat sie Dean für sich selbst. Dann ist es zu spät!!" Sam versteifte sich augenblicklich ob solcher Gedanken. Hope mußte ihm irgendein Mittel gegeben haben, das sein Urteilsvermögen trübte. Verdammte Schlampe! Er mußte etwas gegen sie unternehmen. Aber was? Nachdenklich ging Sam alle Optionen durch, die er hatte. All zu viele waren es aber leider nicht. Dean brauchte Hilfe. Und Hope war die einzige, die ihm hier helfen konnte. Er mußte wohl noch eine Weile nett spielen und nach ihrer Pfeiffe tanzen. Erst jetzt stellte der jüngere Winchester fest, daß sein Bruder irgendwann zu husten begonnen hatte. Dean hustete und hörte nicht wieder auf. In einem leichten Anflug von Panik löste sich Sam von seinem Bruder und hielt ihn ein wenig von sich weg. Vielleicht hatte der ältere Winchester einfach zu wenig Luft bekommen, so halb in Sams T-Shirt vergraben - ein T-Shirt, daß nicht nur von Tränen durchnäßt war. Der jüngere Winchester stellte entsetzt fest, daß ein nicht unerheblicher Teil blutverschmiert war. Dean hustete weiter und spritzte dabei dicke Blutstropfen auf das Bett, die Decke, Sam im Allgemeinen. Und die Drainage war ebenfalls mit Blut gefüllt. Mist. Jetzt war Zeit für richtige Panik.
Sobald Hope Sams Schreie hörte, eilte sie sofort die Treppe wieder hinauf. Sie verfluchte sich für ihre Gutgläubigkeit. Nachdem sie gehört hatte, wie sich die beiden scheinabr zivilisiert unterhielten, hatte sie ihren Posten vor der Türe aufgegeben. Sie wollte nicht lauschen und wenn Dean ihren Namen rief, würde sie das auch unten noch hören. Außerdem konnte sie so eine Kleinigkeit zu Essen herrichten. Jetzt da beide Jungen wach waren, wollte sie die Chance dafür nutzen. Hope nahm immer zwei Stiegen auf einmal und stellte besorgt fest, daß der jüngere Jäger richtig panisch klang. Er brüllte noch immer ihren Namen aus Leibeskräften, als sie die Türe zum Gästezimmer aufriß und herein stürzte. Sie brauchte gar nicht fragen, was passiert war. Sie sah es sofort. Wie auch immer es geschehen war, Dean hatte seine Lunge wieder verletzt. Der ältere Winchester hustete Blut und wirkte so, als wäre er am Ersticken - nicht nur wirkte, mußte sich Hope erinnern. Der beschädigte Lungenflügel füllte sich langsam mit Blut und Dean fühlte sich bestimmt, als würde er auf trockenem Land ersticken. Als erstes drehte sie die Sauerstoffzufuhr hoch. Dann sagte sie mit fester, bestimmter Stimme zu Sam: "Ich hab alles unter Kontrolle. Bitte geh kurz raus und beruhige dich. Ich hole dich, sobald ich hier fertig bin." Sie wußte, daß das die Paranoia des jüngeren Winchester nur erneut entfachen würde, aber sie mußte den panischen Kerl aus dem Zimmer bekommen. Es hat schon seinen Grund, warum in einem OP keine Angehörigen und Besucher gestattet sind. Zu ihrem Erstaunen gehorchte er und ließ sie mit seinem Bruder alleine. Hope wand sich wieder Dean zu. Sie war fest entschlossen, das Schlamassel, in das die beiden Brüder geraten waren, zu beenden. Aber das ging nicht alleine.
Sam war nicht ganz klar, was inzwischen passiert war. Hope hatte ihn aus dem Zimmer geschickt, was im Nachhinein betrachtet nicht nur logisch, sondern wahrscheinlich auch das Vernünftigste gewesen war. So hatte er Zeit sich langsam wieder zu beruhigen - so gut das eben ging, während man nicht wußte, ob man gerade zum Vollwaisen geworden war. Du bist schon Vollwaise, seit dem Dad tot ist! schalt sich Sam selbst. Und außerdem beizeichnet man so nur Kinder. Du bist erwachsen, verdammt! Aber irgendwie fühlte sich Sam nicht erwachsen. Er fühlte sich wieder 14, als er genug von der Welt verstand, um seine Unfähigkeit, irgendetwas an ihrem Schicksam zu ändern, begriff. Und Dean... Dean war immer für ihn da gewesen. Mehr als Dad. Viel mehr als Dad. Wenn Dad noch am Leben und Dean tot wäre, dann würde sich Sam dennoch als Waise sehen. "Hope will ihn dir wegnehmen..." Nein, Hope rettet ihm gerade das Leben! "Woher willst du das wissen? Sie könnte dort oben..." Sam versuchte die Stimme zum Schweigen zu bringen, aber es funktionierte nicht. Unbeirrt sprache die ominöse Stimme weiter: "...gerade sein Herz zum stehen bringen. Und nachher belügt sie dich, heuchelt Mitlied und Trauer. Du mußt das jetzt beenden. Nimm deine Waffe..." Es kostete Sam einige Willensanstrengung, die Stimme zu ignorieren. Er wußte jetzt, daß irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung war. Nein, das war wirklich alles andere als normal. Das waren nicht seine Gedanken. Seine Gedanken konnte er selbst lenken und unterbrechen. Das hier war jemand anderer. Jemand Böser. Das Lachen aus seiner Vision fiel Sam wieder ein. Er hatte es gänzlich vergessen gehabt, sich nur auf Alma und ihren Fall konzentriert. Das war ein Fehler gewesen. Hoffentlich war es jetzt nicht schon zu spät... Er brauchte Hilfe.
Kapitel 20»