Dean sank auf die Knie und zwang sich ein paar mal langsam durch zu atmen. Es würde Sam nichts nutzen, wenn er jetzt in Panik ausbrach. Denk nach, Dean. Konzentriere dich. Sam hat sich nicht einfach in Luft aufgelöst. Die Eisschicht am See war nicht mit Schnee bedeckt. Vielleicht hörten die Spuren also nicht einfach auf, vielleicht war Sam auf das Gewässer hinaus gegangen. Dean kniff die Augen zusammen, konnte aber keine Einbruchstelle entdecken, so sehr er sich auch anstrengte. Sam war derjenige gewesen, der die Infos über die Gegend organisiert hatte. Der ältere Winchester wußte nicht, ob es hier in der Nähe vielleicht eine alte Hütte oder ähnliches gab. Dean griff in seine Jackentasche und holte vorsichtig sein Händi heraus. Hoffentlich konnte Hope ihm weiterhelfen.
Als ihr Telefon läutete, hatte Hope schon so eine ungute Vorahnung. Sobald sie Deans Stimme hörte, in der leichte Verzweiflung mitschwang, verstärkte sich dieses Gefühl noch mehr. Irgendetwas war passiert. Und die beiden Brüder waren in Gefahr.
"Sam ist verschwunden! Wir sind hier am See, ich hab mich kurz hingesetzt und als ich wieder zu ihm geschaut habe, war er weg."
"Was heißt weg? Es liegt genug Schnee, folge doch einfach den Spuren... Moment. Hast du schon versucht ihn anzurufen?"
Die lange Pause sagte ihr, daß Dean noch gar nicht auf diese Idee gekommen war, noch bevor er den Mund wieder aufmachte. "Ich ruf dich wieder an." Am See lag kein Schnee... Dean wußte nicht, wie er das übersehen hatte können. Bei dem Schneegestöber der letzten Tage, hätte auch hier eine dicke Schneedecke liegen müssen.
Das Läuten seines Telefons holte ihn aus einem tiefen aber kaum erholsamen Schlaf. Sein Kopf pochte und als Sam die Augen aufschlug, konnte er kaum etwas um sich herum erkennen. Einerseits lag das daran, daß irgendetwas Feuchtes seinen Kopf hinunter rann und in seine Augen getropft war. Andrerseits war es hier - wo auch immer das war - nicht gerade allzu hell. Die Luft roch muffig und erdig und der jüngere Winchester hatte das Gefühl, als wäre er lebendig begraben worden. Vorsichtig setzte er sich auf und beinahe sofort verschwamm alles um ihn herum. Der Boden bewegte sich auf sein Gesicht zu, sodaß er Augenblicke später die Nase in den erdigen Boden gebort hätte, wäre der nicht gefroren gewesen. Sam beschloß seine neue Situation erst mal aus dem Liegen heraus zu erkunden und drehte den Kopf so weit, daß seine Nase nicht mehr verbogen wurde. Sein Händi läutete immer noch... Sein Händi! So rasch es ging zog er das Gerät aus seiner Hosentasche und nahm das Gespräch entgegen.
"Sam?", klang Hopes Stimme aus dem Lautsprecher. "Geht es dir gut? Was ist passiert? Wo bist du?"
Sam drehte vorsichtig den Kopf und ließ seinen Blick schweifen. "Ich weiß nicht genau... Ich bin in irgendeiner Höhle... Aber ich habe keine Ahnung, wie ich hier her gekommen bin."
"Hat sich Dean schon bei dir gemeldet?"
"Nein... nein, ich glaube nicht. Moment." Sam nahm das Telefon von seinem Ohr und warf einen Blick auf das Display. Das Icon für Anrufe in Abwesenheit wurde nicht angezeigt. "Nein, er hat nicht angerufen, warum? Was ist mit ihm?" Sam versuchte sich erneut aufzusetzen. Dieses Mal allerdings langsam und vorsichtig. Es klappte und er konnte seinen Rücken an die Wand der Höhle lehnen und etwas verschnaufen, um wieder zu Atem zu kommen.
"Er hat mich angerufen und erzählt, daß du einfach verschwunden wärst. Ich hab ihm gesagt, er soll eine Nummer probieren, dann ist die Verbindung plötzlich abgerissen... Wenn ich nicht genau wüßte, daß es hier schon die letzten zwei Wochen so eiskalt ist, würde ich sagen, er ist eingebrochen. Aber die Eisschicht sollte inzwischen sogar ein Auto tragen können..."
"Eingebrochen? Im See? Oh mein Gott..." In Sams Stimme schwang deutliche Panik mit.
"Sam, hör zu! Sam. Beruhig dich. Bist du verletzt?"
"Ich...", der jüngere Winchester wischte mit einer Hand über seine Augen und betrachtete die Flüssigkeit dann im Licht seines Displays. "... ich hab mir wohl den Kopf angeschlagen. Mir ist schwindlig und ich blute. Aber ich glaube nicht, daß die Wunde tief ist."
"Kannst du aufstehen und Dean suchen?"
"Ja... ja, ich glaube schon."
"Ok, hör mir zu. Ich weiß nicht, was du alles über Unterkühlung weisst. Aber wenn du deinen Bruder findest, gib ihm warmen Tee, nimm die Taschenwärmer, die ich in seinen Rucksack gepackt habe und die Rettungsdecke aus dem Erste Hilfe Zeug und schau daß du seinen Rumpf damit umwickelst. Die Arme und Beine nicht aufwärmen und nicht hoch heben. Ich... ich wersuche zu euch zu kommen. Wenn irgendetwas ist, ruf mich an. Ok?"
"Ok."
Sam hatte zwar keine Ahnung, wie Hope das schaffen wollte - ihren eigenen Angaben nach war das Haus eingeschneit - aber er drängte den Gedanken schnell beiseite. Zuerst mußte er Dean finden und sicherstellen, daß sein Bruder noch am Leben war. Danach konnte er sich Gedanken über verschneite Straßen machen. Der jüngere Winchester steckte das Telefon wieder ein und machte eine kurze Bestandsaufnahme. Er war noch immer dick angezogen, hatte seinen Rucksack am Rücken und fühlte sich bis auf die Kopfschmerzen recht gut. Er schien sonst also unverletzt zu sein. Die Höhle war etwa 3x3 Meter groß und wurde dann von einem Holzgitter begrenzt, das der Höhle den Anschein eines Zwingers verlieh. Dahinter konnte Sam einen Gang erkennen, der allerdings schon bald abbog. Sam öffnete den Rucksack und war erleichtert, als er darin die kleine Handaxt fand, die Dean unbedingt mitnehmen wollte. Er stand vorsichtig auf und stellte dabei fest, daß der erwartete Schwindelanfall deutlich schwächer als der letzte war und daß er sich anscheinend seinen Knöchel wieder auf irgendeine Weise beleidigt hatte. Die Holzstäbe wirkten alt, waren aber noch überraschend stabil und so brauchte Sam etliche kräftige Schläge, bevor er einen Durchgang geschaffen hatte, der groß genug für ihn war und er sich endlich aus seinem Gefängnis befreien konnte. Sam schlüpfte leise schnaufend durch die Öffnung und hielt dann inne um zu lauschen. Kein Geräusch drang an sein Ohr und er wußte nicht, ob das gut oder schlecht war. Leise aber so schnell es sein verletztes Bein zuließ humpelte der jüngere Winchester den Tunnel entlang und stellte fest, daß das Licht immer heller wurde. Inzwischen konnte er sogar den erdigen Boden weit genug erkennen um den Unebenheiten ausweichen zu können. Als sich vor ihm eine riesige Höhle auftat war ihm auch klar, woher dieses flackernde, bläuliche Licht kam. Der natürliche Raum vor ihm war gute 10 Meter hoch und mindestens genauso breit. Der hintere Teil der Höhle verlohr sich irgendeo im finstere, allerdings hatte Sam nur Augen für die gigantischen Eissäulen, die ein sanftes Licht ausstrahlten. In der ersten war eine junge Frau eingeschlossen, die er nicht kannte, aber der jüngere Winchester hatte keine Zweifel, daß es sich hier um Almas Freundin handelte. Sam humpelte rasch weiter und entdeckte in dem zweiten Eisgebilde den Körper des Geistes. Wie die erste Frau hatte auch dieser Leichnahm die Augen geschlossen und sah so aus, als würde er nur schlafen. Dann erhaschte Sam einen Blick auf die Gestalt in der letzten Säule. Dean.
Kapitel 10»