Der Anfang des Buches
"Die Formel ,Unabhängigkeit des Denkens' ist eine geläufig gewordene Qualifikation. Man ist geneigt, sofort sagen zu können, was das ist - das Denken als Unabhängiges. Die Formel gehört zu jenen Attributen im intellektuellen Wertekanon, die wahrscheinlich jeder Intellektuelle gerne für sich selbst in Anspruch nimmt und die bei Laudationes das nächstliegende Prädikat des zu Belobigenden ist: Was in Wirklichkeit ganz selten ist, wird gemeinhin als ganz kommun gehandelt. Warscheinlich liegt das daran, dass das Wort ,unabhängig' moderne Charakteristika wie ,frei', ,individuell', ,eigenwillig', ,selbständig' impliziert."
Karl Heinz Bohrer, "Selbstdenker und Systemdenker", München 2011, S. 7.
"Ganz anders [als bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant] liegt der Fall beim gelehrt-philologischen Denken, denn viele geisteswissenschaftliche Arbeiten, so intelligent sie auch sind, zeugen nicht von einer Unabhängigkeit des Denkens, sondern gerade vom Gegenteil. Die Fußnote, der Bezug auf schon gespeichertes Wissen, spielt ja dort eine ausschlaggebende Rolle, besonders in der deutschen Gelehrtentradition, die deshalb lange berüchtigz war für unlesbare, aber umso gelehrtere Wälzer, und ist noch immer bekannt dafür, dass ihre Studenten mehr zur Lektüre von Sekundärliteratur denn zum selbständigen Nachdenken erzogen werden."
Karl Heinz Bohrer, S. 8.