5. Türchen

Dec 05, 2013 00:31

Challenge: Gefallene Engel (und andere Sachen mit Federn), Angebrannte Herzen
Fandom: Original
Wörter: 700
Anmerkung: Es sollte ein ganz lieblich weihnachtliches Märchen werden, aber anscheinend war ich nicht in der Lage das lieblich-herzensgute in diesen Prompts zu entdecken ...



Ich war zehn Jahre alt, als ich meinem ersten Engel begegnete.

Der Schnee hatte den ganzen Garten unter seinem weißen Mantel versteckt. Mein Bruder und ich standen in unseren Winterkleidern auf der Terrasse und bewunderten diesen Anblick unberührter Schönheit. Natürlich war unsere andächtige Ehrfurcht nicht von Dauer. Dafür waren wir Kinder. Bald schon tobten wir den Hang hinunter, bewarfen uns mit Schneebällen, ließen uns auf den Rücken fallen, ruderten mit den Armen und bewunderten die Engel die wir auf dem Boden zurück ließen.

In unserem Spiel entfernten wir uns weit von dem Haus unserer Eltern, jagten einander bis zu dem kleinen Wald, der im Osten an das Grundstück grenzte.

Im Sommer war das ein dunkler Ort, voller Hecken unter deren Blattwerk man sich verstecken konnte. Jetzt sahen uns trostlos-kahle Gerippe entgegen.

Ich fröstelte. In unserem Rücken wollte die Sonne bereits hinter dem Haus verschwinden und die Kälte von Schnee und Eis fraß sich durch das Futter meiner Handschuhe.

„Es ist schon spät“, erklärte ich. Den Vorschlag ins Haus zurück zu kehren wollte ich nicht selbst, nicht laut aussprechen, aus Sorge als Angsthase dazustehen.

Mein Bruder allerdings dachte noch lange nicht daran nach Hause zu gehen. Seine Wangen glühten vor der Kälte, aber seine Augen funkelten voller Aufregung, voller Freude über den Schnee und unstillbarer Abenteuerlust.

„Der See ist bestimmt auch schon zugefroren!“, war alles was er auf meine Worten zu antworten hatte, dann rannte er los, geradewegs in den Wald hinein.

Ich stolperte ihm nach. Rief seinen Namen.

Ja, dachte ich, der See ist ganz bestimmt schon zugefroren, aber er wird dich nicht tragen können.

Ich hatte meinen Bruder längst aus den Augen verloren, um mich herum wurde es dunkel. Erschöpfung zwang mich für einen kurzen Moment stehen zu bleiben, an den Stamm einer Blutbuche gelehnt, nach Luft zu ringen. Jeder Atemzug füllte meine Lungen mit scharfkantigen Eissplittern.

Er wird nicht blindlinks auf die Eisdecke rennen. Er ist leichtsinnig, aber nicht dumm.

Krampfhaft versuchte ich mich davon zu überzeugen. Ich wusste nicht mehr wo ich war - womöglich hatte ich den See in meiner Eile verfehlt, war an ihm vorbei gelaufen und nun schon bald im Dorf, während mein Bruder -

Ein Schrei riss mich aus meinen Gedanken, trieb jede Erschöpfung, jede Kälte aus meinen Gliedern und mich weiter, dem Echo der Stimme hinterher, trieb mich, bis ich endlich eine Lichtung erreichte, mein Stiefel verfing sich in einer Wurzel, ich strauchelte, versuchte mein Gleichgewicht wiederzufinden und purzelte schließlich Böschung hinunter.

Da lag etwas, menschengleich, nur größer - viel größer und so weiß, dass sein Körper in mitten des Schnees fast unsichtbar blieb. Wäre da kein Wind gewesen, der hin und wieder leise durch die Federn seiner Flügel fuhr, ich hätte geglaubt, mir den Engel einzubilden.

Vom Rand der Lichtung aus betrachtete ich ihn, unfähig mich auch nur einen weiteren Zentimeter zu bewegen. Jede Angst, jede Sorge - um meinen Bruder, um überhaupt irgend etwas - schmolz dahin. Den Engel umgab eine so vollkommene, so reine Wärme, wie ich sie nie zu vor und später nicht wieder, nirgendwo, zu spüren bekam. Das war nicht die äußerliche Hitze des Kaminfeuers, das einem die Hände wärmt, während die Schulter und der Rücken frieren. In mir selbst wurde es warm und wohlig. Ich wollte nichts lieber als näher an den Engel heran treten, mehr von dieser Wärme, dieser Liebe, in mir spüren.

„Bleib stehen“, hörte ich da eine Stimme in meinem Kopf.

„Eure Herzen sind zu jung, zu sterblich, als dass sie so viel Liebe ertragen könnten ohne sich daran zu verbrennen.“

Er sprach von „uns“, und in jenem Moment wusste ich, dass mein Bruder auch hier sein musste, dass er wegen des Engels geschrien hatte.

„Wo ist mein Bruder?“, hörte ich mich den Engel fragen, und fragte mich zugleich selbst, ob ein Engel wohl mehr Respekt verdient hatte.

Der Engel antwortete nicht, doch er bewegte seine Flügel, hob sie schwerfällig von der Erde.

Ein Beben erfüllte die Luft, ein warmer Schauer der meinen Rücken hinunter lief. Ohne selbst Schmerzen zu empfinden spürte ich doch, dass der Engel Schmerzen litt, dass es ihm nur unter Qualen und großer Anstrengung gelang seinen Flügel so weit zu heben, dass ich die kauernde Gestalt meines Bruders darunter erkennen konnte.

„Er hat meine Warnung nicht gehört“, flüsterte die Stimme des Engels in meinem Kopf.

„Es tut mir Leid“, flüsterte er.

„Es tut mir -“, er versuchte sich noch einmal aufzurichten, sah mich mit seinen lichten Augen, mit schmerzverzerrtem Blick an.

Dann brach er in sich zusammen, zerstob in abertausend winzige Kristalle, in feinsten Pulverschnee, der sich über die Schultern, und die Mütze meines Bruders legte.

Mein Bruder aber blieb wo er war, stierte mit stumpfen, dunklen Augen in meine Richtung.

„Wir sollten nach Hause gehen“, sagte ich, aber er rührte sich nicht. Ich musste ihn packen und mit mir ziehen, musste jeden Schritt auf unserem Rückweg zwei mal - einmal für mich und einmal für ihn - tun.

Unser Vater fand uns, bevor wir unseren Ausweg aus dem Wald fanden, brachte uns zurück ins Haus, wo wir mit warmen Decken und heißer Schokolade, mit Tränen der Erleichterung und des Zorns empfangen wurden. Mein Bruder sagte kein Wort, starrte nur stumm vor sich hin, als unsere Mutter ihn in ihren Armen wiegte.

Sie glaubten, es wäre der Frost, der ihm in die Glieder gekrochen sei. Er bräuchte nur ein wenig Zeit um sich wieder zu erholen. Ein wenig Recht hatten sie vielleicht.

Mit der Zeit begann er wieder zu sprechen, sich wieder selbstständig zu bewegen. An manchen Tagen konnte man fast glauben, er habe sich erholt.

Aber in den sieben Jahren, die seit jenem Winter vergangen sind, habe ich ihn nicht ein einziges Mal Lächeln sehen.

leni, original, adventskalender

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