Team: Ovid
Challenges: Horror/Thriller-Box; Spuren
Fandom: Original
Wörter: ca. 1000
Summary: Verwirrend. Wie könnte es auch anderes sein, wenn ein älterer Mörder versucht, wie ein unschuldiges, niedliches Mädchen zu denken?
Eine Warnung für Bleistifte wäre vielleicht angebracht.
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'Was würde ich tun, wenn ich ein zwölf-jähriges Mädchen wäre?' Der Spezies wird nachgesagt, selbst nicht so genau zu wissen, wohin des Weges. Wie kann man es dann von einem professionellen Auftragskiller in den besten Jahren verlangen, er müsse sich in die Haut eines solch zwielichtigen Individuums hineinversetzen?
Verloren schaute Jonathan sich in dem Kinderzimmer um. Wie würde er das Terrain beschreiben?
Nett? Gemütlich?
Als sein Blick über das helle, sogar relativ aufgeräumte Zimmer strich, drängten sich ihm eher solche Adjektive wie 'fremd' und 'abstoßend' auf. Beunruhigend. Ein besonders feindseliges Plüschtier starrte ihn von der Pfirsichfarbenden Bettdecke an. Die schwarzen Knopfaugen glänzten hämisch und weckten den unwiderstehlichen Drang, dem Vieh seinen weichen, nachgiebigen Hals umzudrehen.
Nur keine Aggression, damit kommt man in seinem Milleu nicht weit. Analysiere die Situation und finde heraus, wo du an ihrer Stelle die Mikrofilme versteckt hättest. Bedenke: Du bist ein junges Mädchen, das von ihrem Vater ein neues Spielzeug geschenkt bekommen hat. Egal wie renommiert und hoch-angesehen, für dich ist er nicht der Welt-berühmte Professor sondern nur dein Daddy.
Nachdenklich ließ Jonathan sich auf einem Drehstuhl vor dem großen Eichentisch nieder. Der Tisch passte nicht so ganz zu der sonstigen Einrichtung und zog die Blicke auf sich, wies aber keine Schubladen auf, die man durchwühlen könnte, nur eine glatte, dunkle Oberfläche, kaum zu sehen unter all den Schulheften und Buntstiften. Die Stifte waren abgenutzt, an dem einen Ende abgeknabbert, an dem anderen stumpf. Wenn man damit jemanden die Augen ausstechen oder die glatte, matt-schimmernde Spitze langsam in das schutzlose Fleisch drücken würde, bis die Haut erst rot, dann blau anlief, und schließlich nachgab, müsste derjenige einen sehr qualvollen Abgang machen.
Kinder, denkt stets daran, die Buntstifte möglichst spitz und sauber zu halten.
Es ist schon lange her, seit er zwölf war (nein, knapp über dreißig ist noch nicht zu alt für den Job!) und selbst in dem zarten Alter konnte man ihn nicht mal aus Versehen für ein Mädchen halten. Hochgewachsen; mit bauschigen, schwarzen Augenbrauen, welche scheinbar in einer ewigen, quälender Frage 'Und was nun?' zusammengezogen waren; der Besitzer einer charakteristischen, schon sehr früh gebrochenen Nase und ruhiger Hände mit breiten, langen Fingern - das alles verleitete nicht gerade dazu, sich ihn in einem Kleidchen vorzustellen. Noch nie wurde er als 'niedlichen' bezeichnet oder in einem tölpelhaft kindischen Versuch zu flirten an den Haaren gezogen.
Konzentriere dich, ermahnte die innere Stimme streng, entspann die Muskel und streng die Vorstellungskraft an. Erinnere dich.
Und Jonathan erinnerte sich. Vor allem an die Begegnung mit seiner Auftraggeberin, an die hohen Absätze ihrer Schuhe und an ihre harte, stahl-graue Stimme, die seit dem Treffen unaufhörlich in seinen Ohren klang. Warum hatte er den Auftrag noch mal angenommen?
Nein, nicht das, das ist irrelevant.
Tiefer.
Das Gewehr lag schwer in seinen Armen, aber der Abzug, ja, der Abzug ging leicht. Gehorsam, leise, wie ein Kätzchen. Als er klein war, hatte er ein Kätzchen. Es war grau.
Noch tiefer.
Ein Buntstift fiel klirrend von dem Schreibtisch. Jonathan tauchte aus dem Gedächtnis wieder auf, wie aus einem bösen Traum. Der Stift war grün und rollte sofort unters Bett. Verspielt und viel zu offensichtlich. Dennoch fiel Jonathan sofort auf die Knie, schaute unter das Bett. Seine großen, geschickten Hände tasteten den Boden effizient ab. Er fand: Staub, einen weiteren Stift - wieder grün, aber diesmal ein hellerer, salatgrüner Farbton - ein kleines Polly-Pocket Figürchen und eine zerknüllte Valentinskarte. Ohne Unterschrift. So ein Feigling!
Mit zwei stumpfen Buntstiften bewaffnet drehte der professionelle Mörder Jonathan Mattison sich langsam im Kreis. Das helle Zimmer machte ihn nervös, was er sonst nie war, und still, was er immer war. Die bauschigen Augenbrauen zogen sich noch ein Stückchen zusammen, die dünnen Lippen bewegten sich lautlos: 'Wenn ich ein Mikrofilm wäre, wo würde ich mich verstecken?'
Stell dich nicht noch dümmer an, als du bist. Denk nach.
Jeder Gedanke hinterließ eine Spur. Klebrige kleine Fußstapfen. Hier war das Mädchen glücklich - er atmete die schwere Süße ein: flauschig und zuckrig. Der Glücksmoment kitzelte seine Nerven, bis Jonathan sich wegdrehte, einem anderen Gefühl entgegen. Hier ärgerte das Mädchen sich über den Jungen mit der unordentlichen Schrift - diese Erinnerung ist laut und nervtötend, sie summt unaufhörlich wie eine verärgerte Wespe, bis es Jonathan schwindelig wird. Hier malte sie - grün grünt das Gras ... wie ging es weiter? Sein Gedächtnis war nie besonders gut. Seltsam, dass die Frau mit der stahl-blauen Stimme, sich ausgerechnet ihn ausgesucht hatte.
Er setzte den stumpfen Malstift an die Wand und zog eine grüne Linie, schwach aber gerade, bis die Farbspur an eine Steckdose stieß. 'Nicht vergessen, das Handy aufzuladen', flackerte ein nüchterner Gedanke auf, diesmal in seiner eigenen Stimme, heiser und tief und ganz ohne Eile.
Im Übrigen hatte sein Handy hier keinen Empfang. Hatte der Professor sein Töchterchen in einem Bunker untergebracht? Mit großen Fenstern, die auf eine stille Nebenstraße gehen? Zweiter Stock, eine ausgezeichnete Sicht auf eine ruhige Straße. Als die Leiche des Professors hier aufschlug, herrschte ringsum Stille, nur Stille, nichts als Stille und die großen, weitaufgerissenen Augen eines Mädchens.
Die Erinnerung kam unerwartet, wie ein Hustenanfall, wenn man Jahrelang geraucht aber sich geweigert hatte an die Konsequenzen zu denken. Wann war das? Der Auftrag liegt bestimmt schon an die zehn Jahre zurück, damals hatte es recht viel Aufsehen erregt - der berühmte Neurowissenschaftler stürzt sich zu Tode, als er mit seinem Töchterchen gespielt hatte. Welch Ironie des Schicksals; das arme Mädchen musste behandelt werden, jahrelang, bis man ihr klargemacht hatte, dass nicht sie Schuld an dem grauenhaften Vorfalls hatte. Natürlich war das nicht ihre Schuld.
Doch irgendwann werden Kinder erwachsen, die Erinnerungen verwischen, manche für immer, manche verwandeln sich, werden zu Schmetterlingen, nehmen Gestalt an. Manche von ihnen bekommen sogar einen Namen.