In einem Boot...

Dec 03, 2008 20:58

985 Wörter. Drei nette Gestalten in einem Boot. Original


Eigentlich wollte von Anfang an niemand die Klassenfahrt mit Erlebnispädagogik. Echt wahr, noch nicht mal Frau Sommer-Schneeberg wollte das. Die war bloß zu doof einen Flug nach London zu buchen, bevor er ausgebucht war. Naja, England konnten wir also streichen und dann war da die Mutter von Marcel und Maurice, die ganz zufälligerweise bei so einer Erlebnispädagogikschenkensieihrenkinderneinwertvolleserlebnisreiseagentur arbeitet. Eigentlich sollte die ganze Klasse ihr jetzt dankbar sein, dass wir überhaupt zusammen wegkommen. Aber mal ehrlich: Wenn die andern zehnten sich in Prag besaufen, in der Toskana die Sonne genießen oder in Paris shoppen, dürfen wir über die Mecklenburgische Seenplatte paddeln. Ich freu mich nen Ast. Und falls wir irgendeinmal von diesen Kanudingern runter kommen sollten, was ich inzwischen irgendwie bezweifle, können wir den lieben langen Tag gruppendynamische Spiele und Motivationsübungen machen. Man, was hab ich Bock drauf.
Aber das schlimmste, das aller-aller-schlimmste hab ich noch gar nicht gesagt. Wir sind Dreiergruppen. Drei Mann pro Kanu. Wer kommt natürlich zusammen in eine Dreiergruppe? Klar, Laura, Lotte und Leonie! Die drei Oberschnatterliesen und allerbesten Freundinnen. Einfach untrennbar. Und wem komm ich in eine Gruppe? Mit Marcel und Maurice. Genau. Max und Moritz. Die Zwillinge mit den Pickeln. Beide exakt gleich hässlich. Rund wie Fässer. Unrasiert. Riechen ungewaschen. Was sagen die andern mal wieder: Melanie, Marcel und Maurice - passt doch! In die Fresse, passt doch! Ich muss zugeben, ich war die umnachtetsten drei Monate meines Siebtklässlerlebens mit Marcel zusammen. Ja, wir haben uns geküsst. Ja, wir haben uns ewige Treue geschworen. Das war damals, als Marcel und Maurice noch keine ekligen Bartstoppel hatten, als sie eher noch so rund wie ne Praline waren und sich aus unerklärlichen Gründen noch gewaschen hatten. War halt Glücksspiel. Damals sahen echt alle Jungs aus wie die und kann ich ja nicht ahnen, dass sich ausgerechnet die beiden in der Entwicklung zurückentwickeln würden.
Natürlich war das damals noch nicht das Ende von der Welt. Marcel also, wies sich für nen geläuterten Ex gehört, hasst mich jetzt halt und Maurice - liebt mich. Nee, ich hab mich echt nicht von Marcel getrennt, damit Maurice sich in mich verliebt. Die sind gleich. Sehen gleich aus. Haben die gleichen Eigenschaften. Tragen die gleiche Kleidung. Ach ja, einer hasst mich und einer liebt mich. Das ist der einzige Unterschied.
Jetzt sitzen wir in diesem Scheißkanu. Es regnet. Mir war kalt. Maurice hat mir seine Jacke hingehalten. Ich hab sie weggewedelt, weil die echt stinkt. Und jetzt ist die ins Wasser. Irgendwie weg. Fand ich vor ein paar Stunden noch lustig. Aber jetzt ist mir eisekalt. Wär mir echt egal, von wem die Jacke kommt, wenn ich wenigstens eine verdammte Jacke hätte. Marcel räkelt sich natürlich die ganze Zeit genüsslich in seiner, identisch warm aussehenden Jacke. Arschloch. Grinst noch dabei. Jetzt auch nicht mehr, aber der Reihe nach. Also, wir sitzen in diesem, äh, Paddelboot und haben insgesamt eine Jacke verloren. Wir paddeln. Maurice und Marcel paddeln gleich stark. Ich paddle gar nicht. Mal ehrlich, wenn zwei Jungs dabei sind, können die das ruhig tun. Wir paddeln trotzdem im Kreis. Wir irgendwie langsamer als die andern Gruppen. Dann ham wir sie fast eingeholt, müssen über diesen einen trügerisch harmlosen See. Nichts da. Strömung. Seltsame Strömung. Ich mag dich nicht, Strömung. Wir kommen nicht vorwärts. In anderthalb Stunden nicht ein Stück. Wir wollen was Essen. Marcel holt Brot raus. Den ganzen Leib. Versucht Maurice was zu geben, ohne dass ich was abbekomm. Geht nicht. Ich sitz in der Mitte. Er wirft. Das Brot schwimmt im Wasser. Wir überlegen, was wir sonst noch essen können. Äpfel hatte nur eine Gruppe. Zum mit den andern teilen. Die restlichen Gruppen haben wohl auch was bekommen, aber sind einfach zu lahm. Käse. Wir sitzen bei Regen in einem Kanu und essen Käse. Wir müssen echt verzweifelt sein. Die seltsame Strömung ist weg. Wir kommen vorwärts. Marcel meint, ich soll mitpaddeln. Maurice will mir das nicht zumuten. Der Schnuckel. Seh ich aus, als wenn ich paddeln könnte? Ich könnt Brote schmieren, wenn ich Brot hätt. Jetzt streiten die sich also. Wie zwei kleine Geschwister. Dumm nur, dass sie jetzt auch noch schmollen. Ich paddle einfach nicht mehr! Ich paddle auch nicht mehr! Ätsch-Bätsch! Ich sag ihnen, dass sie wie zwei kleine Geschwister aussehen. Knuffig. Maurice bekommt ganz glänzende Augen. Wegen dem knuffig. Wir sind kleine Geschwister, sagt er. Ham nen großen Bruder. 21. Koch (in Ausbildung oder so). Bestimmt mal mit fünf Sternen und so. Spielt im Fußballverein. Ist Rettungsschwimmer. Maurice zeigt mir ein Foto.
Eindeutig Eigentor, Maurice. Aber was für ein Eigentor. Stimmt, kann mich erinnern, hatten nen Bruder. Aber vor vier Jahren war der doch nicht so geil? Rank und schlank, sonnengebräunt, starke Arme, braune Haare mit schicken blonden Strähnen. Blaue Augen wie der Himmel in der Toskana. Tut mir Leid, Maurice, mir ist das Bild ins Wasser gefallen. Ist es nicht. Jetzt hab ich’s. Ne Handynummer von dem steht hinten auch drauf. Da ruf ich heut Abend noch an. Aber dafür muss ich erst mal ankommen. Maurice und Marcel, seit ihr euch sicher, dass ihr nicht mehr paddelt? Gut, müsst ihr auch nicht. Aber mir nen Gefallen versprechen, dann padsdle ich auch den Rest. Ich also, mit meinen siebenundvierzig Kilo, schnappe mir mein Paddel und Paddel mit aller Kraft die beiden Walrösser, das Foto vom Traumprinz und die Verpackung vom Käse bis an das Ufer. Ich komm mir vor wie bei Unicef. Geschafft. Maurice und Marcel steigen aus und versinken im Morast. Ich bleib im Boot sitzen, erinnere sie an den Gefallen, den sie mir noch schulden, lasse mich mitsamt dem Boot auf vier starken Händen zur Jugendherberge tragen, himmle ein Foto an und der Himmel bricht auf. Bei Maurices Sachen finde ich noch Kekse. Wirklich ein Arschloch. In aller Seelenruhe tippe ich die erste SMS, Maurice schwitzt und ich kuschele mich in seine Jacke. Hat er bestimmt von seinem Bruder geerbt. Ganz ehrlich, noch perfekter kanns auf Klassenfahrt kaum noch werden.

original, wieldy

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