Team: Schwarz (Eisberg)
Challenge: Genre: Cyberpunk [Kartoffel mit Blut-Back-up] - fürs Team
Fandom: Nocturne Whispers
Charaktere: Rick, Liam (zwei Untote) plus eine Variable.
Wörter: ~1350
Einordnung: Passt an Liams
Hilferuf während der Hasenapokalypse, müsste aber auch alleinstehend funktionieren.
Der schwarze Stein, den er mit zwei Fingern auf die glasglatte Oberfläche setzt, erzeugt ein Echo, weil der Raum sich langsam leert. Als sie begonnen haben, war er voll und schier endlos. Variante um Variante um Variante dieses einen Spiels. Doch jede Entscheidung für etwas ist immer auch eine gegen etwas anderes. In der Ferne zerrinnen weitere Partien lautlos zu feinem, silbrigen Sand bis sie sich schließlich ganz auflösen.
Sie begutachtet, was übrig ist, begutachtet ihn. Ihr Blick ist durchdringend. Die graugrünen Augen greifen in sein Innerstes, seitdem er sich hier hingesetzt hat. Er hat sie schon einmal gesehen. Natürlich hat er das. Er hat so ziemlich alles und jeden schon einmal gesehen. Dasselbe gilt für sie, trotz der jugendlich-neugierigen Fassade, die sie gewählt hat, um ihn aufs Glatteis zu führen. Es berührt ihn eigentümlich, dass sie es schafft, ihn anzusehen als würde sie das hier ernsthaft interessieren. Warum macht sie sich die Mühe?
Das Rätsel beschäftigt ihn. Anders als jenes, um das sie hier herumrechnen bis einer stolpert. Natürlich kostet auch das ein wenig Energie, doch es beschäftigt ihn nicht.
Er erwidert ihr Lächeln, als sie einen ihrer silbernen Steine vom Brett nimmt. Sie sehen einander an, schalkhaft, siegessicher, alle beide.
Ein Widerspruch.
Hier drin gibt es kein Win-Win-Szenario. Es gibt eine Eins und eine Null. Sie setzt den Stein wieder ab und etwas in ihm gefriert. Er sieht den Pfad durch ihre Deckung. Sie sieht ihn auch. Doch sie lächelt noch immer, als die jetzt unausweichlichen Züge zischend über das Brett sausen, Stein um Stein, Puzzleteil um Puzzleteil, das zwischen ihnen hängt wie unter Wasser und dann zu einem Teil von ihm wird.
Sie lächelt noch immer. Er wappnet sich. Eine Falle?
Langsam steht sie auf. Er tut es ihr gleich. Sie beugen sich vor, treffen sich über dem dunklen, spiegelnden Brett. Ihre Lippen sind dicht an seinem Ohr. Sie atmet nicht, genau wie er, weil keiner von ihnen das muss, um zu überleben. Aber als sie ansetzt, ihm TerraTec S.A.s Geheimnis zu erzählen, spürt er einen leichten, frischen Luftzug.
Er lauscht und merkt sich genau, was sie sagt. Das Wissen, dass es einen Haken geben muss, kribbelt wohlig in seinem Nacken.
„Es war schön, dich nach so langer Zeit wiederzusehen“, flüstert sie.
Geplänkel. Zeit ist für keinen von ihnen von Bedeutung. Dennoch, er kann nicht anders, er muss antworten.
„Du hast mir gefehlt“, improvisiert er.
„Du mir auch“, steigt sie ein.
„Wenn du meine Gesellschaft so genießt, warum hast du dann absichtlich verloren?“
Sie lacht. Nichts als Phrasen. Sie machen das nicht zum ersten Mal. Sie versuchen einander aus dem Tritt zu bringen. Gerade gelingt ihr das und er weiß nicht, wie er dazu steht. Warum hat er den Eindruck, sie sprächen hier noch über etwas Anderes?
„Sag mir deinen Namen“, verlangt er den Zugang direkt, weil er sich inzwischen sicher ist, dass sie ihm eine letzte Falle auslegt, bevor er aus ihrem System verschwinden und sich mit den Informationen aus dem Staub machen kann.
Sie nimmt seine Hand und drückt ihm den einen, den letzten Spielstein in die Hand. Er erzeugt ein Echo, ein sehr leises, eine Stecknadel in einem riesigen Saal.
„Madeleine“, sagen sie beide aus einem Mund.
Dann zerrinnt auch sie. Die Systeme gehören ihm. Er spürt sie als feines Kribbeln in den Fingerspitzen. Doch keine Falle? Hat sie einfach aufgegeben wie all die anderen, nur früher? Er sollte sich darüber freuen, aber er tut es nicht. Langeweile ist der Tod und jetzt, wo die Beschäftigung fort ist, stirbt er weiter. Mit leeren Augen sieht er hinunter auf den wertlosen Schatz in seiner Hand.
Der Stein ist verschwunden. An seiner Stelle hält er eine winzig kleine Kartoffel.
„Aber…“, hört er sich sagen. „Madeleine hasst Kartoffeln.“
Ein Widerspruch.
Er hat Madeleine, die echte, nie gesehen. Es gibt keine Erinnerungen an sie in seinem Speicher. Woher weiß er dann, dass sie Kartoffeln abstoßend findet? Woher weiß er, dass diese hier nur eine Kopie…?
Der Raum zerrinnt zu feinem, silbrigen Sand. Er fällt nicht, er stürzt ins bodenlose Nichts. Er will-
Schreien. Er wollte, er musste schreien. Seine Brust war zu eng. Er schnappte nach Luft, doch dort, wo sie hin wollte, war schon etwas. Er würgte und kämpfte mit seinen Muskeln, die sich weigerten, den Befehl zum Aufsetzen auszuführen. Jemand griff in die Flüssigkeit, in der er lag, und tat das für ihn. Er spuckte, hustete, keuchte. Sein Schrei geriet ihm zum Krächzen und erstarb schließlich in einem leisen Wimmern.
Vor seinen aufgerissenen Augen flimmerten die Anzeigen. Warnmeldungen, Fehlercodes, Up- und Downlinks die danach verlangten, wiederhergestellt zu werden. Zwei Hände drückten ihn mit sanfter Gewalt zurück ins Becken. Erfolglos versuchte er, sich zu wehren. Er wollte da nicht wieder hinein.
„Sch-sch, ist ja gut.“
Was sollte daran gut sein?! Warum konnte er sich nicht bewegen?!
Der Boden seines Behälters hob sich, sodass zumindest der Großteil seines Gesichts über der Oberfläche blieb, während die Ohren unterhalb dem gedämpften Klicken und Surren und Brummen der Maschinen zuhören mussten. Die Anzeigen über ihm beruhigten sich wieder.
„Tut mir leid, ich kann dich nicht trennen, bevor wir auch die letzte Kopie von dir und deinem tausendjährigen Superhirn aus ihren Systemen haben“, sagte der junge Mann und wischte ihm ein paar klebrig-nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„… blutest“, stellte er mit raspelnder Stimme fest.
Aus Gründen, die er nicht verstand, wollte er die Stelle berühren, sauberwischen, nachsehen, was los war. Doch sein Körper verweigerte ihm weiterhin den Dienst.
„O-ohr“, brachte er unter Aufbietung all seiner Kräfte heraus.
„Huh?“, machte der Junge und trocknete sich die Hände, an denen noch mehr Blut klebte.
Erschrocken riss er die Augen auf und kämpfte erneut gegen die tauben Gliedmaßen.
„Hey-hey-hey, schhht! Halt still, okay? Dir passiert nichts, versprochen. Aber wir müssen das langsam angehen.“
„Ohr!“, wiederholte er drängend.
Endlich verstand der Junge und wischte sich mit einem Taschentuch dran herum.
„Oh, das. Keine Angst, das ist nichts Ernstes.“
„Du… alles… voll“, protestierte er schwach.
„Nee“, grinste der Junge. „Du bist voller Blut, alter Mann. Also mehr oder weniger. Nein, eigentlich weniger, wenn ich so drüber nachdenke. Sie haben dich auf dieses Low Energy-Zeug umgestellt. Gerade genug, damit du nicht in Raserei oder gar ins Koma fällst. Aber mit großen Sprüngen ist nichts, bevor du n ordentlichen Drink bekommst. Ich geb dir einen aus, wenn du versprichst, still liegenzubleiben. Deal?“
Er verstand nicht. Reflexartig griff er nach dem Such-Algorithmus, streckte sich nach Wörterbüchern und Bibliotheken. Doch da war nichts. Alles, was er damit erreichte, war dass es auf einer der steinalten Anzeigen warnend blinkte. Der Junge wandte sich um und für einen Moment verlor sein freundliches Lächeln den Kontakt mit den Augen.
„Ich kann nicht-“
„Klar kannst du, du bist nur ein bisschen eingerostet. Aber das ist wie Fahrradfahren oder ne neue Brille kriegen. Dein Hirn macht das allein, wenn du’s nur lässt. Entspann dich einfach. Assoziier ein bisschen. Blut, Raserei, was klingelt da bei dir?“
„Klingeln?“
„Was kommt dir als erstes in den Sinn?“
„Ich… hab Durst.“
„Hundert Punkte! Was noch?“
„Ich… bin kein Mensch.“
„Hmjaa, da haben wir beide unterschiedliche Meinungen zu, aber ich lass das für heute mal so stehen. Noch was?“
„Langeweile ist der Tod“, sagte er, nun mit sicherer Stimme.
„Amen, Bruder! Weiter, du hast es gleich.“
„Ich kann nicht… ich kann nicht… ich kann’s nicht beenden“
Ein Ruck ging durch seinen Körper, als er zu schluchzen begann. Vor seinen Augen verschwammen die hektisch blinkenden Anzeigen. Er wusste wieder, warum Madeleine Kartoffeln verabscheute. Er wusste auch, dass der interessierte Blick da drin nicht ihr gehört hatte. Die Augen waren blau, nicht graugrün, aber er hätte die grenzenlose Neugier, die seinen Nachkommen so mühelos durch die Zeiten brachte, überall wiedererkannt.
„Liam!“, flehte er, als selbiger sich anschickte, auf seinem Hocker zu den kreuz und quer gesteckten Computerteilen hinüberzurollen - weg von ihm.
„LIAM!“
Grenzenlose Erleichterung erfüllte ihn, als der Junge in sein Gesichtsfeld zurückkehrte.
„Na, wieder zu Hause?“, grinste der Idiot und schwenkte die mitgebrachte Konserve über ihm als wäre er ein Esel, den man mit einer Karotte ködern konnte.
„Liam, verdammt! Das war privat!“, beschwerte sich Rick noch immer heulend.