Team: Aschenputtepl
Prompt: sich nach jemandem verzehren (romantik - für mich)
Wörter: 1.184
Original: Uhrwerkträume
Charaktere: Vinzent Schlüssel und seine Familie
Inhalt: Über die Winterfeiertage fährt Vinzent Schlüssel zu seinen Eltern. Nach Hause.#
Werringen, Dezember 1902
Über die Winterfeiertage fährt Vinzent Schlüssel zu seinen Eltern. Nach Hause.
Ein halbes Jahr war er nicht hier. Sieben Monate. In Zahlen ist das gar nicht so viel.
Hundertachtundachtzig Tage.
Viertausendvierhundertachtundachtzig Stunden. Ungefähr.
Ein ganzes Lebens.
Das Gartentor scheint kleiner zu sein, die Villa weniger imposant als früher.
Die Familie Schlüssel gehört zu den Wohlhabendsten innerhalb der Zunft. Sie haben selbst nicht mehr viel mit der Herstellung oder Reparatur von Uhren zu tun, aber das tut ihrem Stand in der Zunft und in der restlichen Gesellschaft keinen Abbruch. Seit zwei Generationen kümmern sie sich um die Koordination des Verkaufs im kleinen wie im großen, das Aushandeln von Aufträgen und die Beziehungen zur Uhrmacherschaft im Ausland.
Böse Zungen behaupten zwar, die Uhrmachermeister Schlüssel hätten stets gut daran getan, bei derartigen Verhandlungen einen ordentlichen Teil für sich selbst beiseite zu legen.
Vinzent weiß nicht, ob diese Gerüchte stimmen. Er hat nie danach gefragt.
Schon im Vorgarten wird er von seiner Schwester, Helen Tack, begrüßt.
„Mama ist ganz mit den Vorbereitungen für das Essen heute Abend beschäftigt“, erklärt sie, während sie ihren Bruder die Treppe hinauf zu seinem alten Zimmer schiebt, und fährt plappernd fort, er hätte gut daran getan ein paar Tage früher oder später anzureisen. Nur heute nicht, wo doch Händler aus dem Umland eingeladen seien. Da müsse alles wie geölt laufen.
Vinzent zuckt mit den Schultern. Wenn seine Anwesenheit Umstände bereite, murmelt er, würde er auf auf seinem Zimmer zu Abend essen.
Helen sieht ihn entgeistert an.
„Mama hatte Recht“, sagt sie, „die treiben dir an diesem Institut noch jeden Anstand aus.“
Sie schüttelt ihren Kopf.
„Da liegt ein Anzug - du hast sicher nicht daran gedacht, den mitzubringen, den ich dir im Sommer eingepackt habe.“
Vinzent stellt seinen Koffer am Fuß des Bettes ab.
Auch sein altes Zimmer scheint ihm kleiner. Vor allen Dingen scheint es ihm unerträglich leer. Über dem kleinen Schreibtisch reihen sich alte Schulbücher auf einem Bord. Auf dem gemachten Bett liegt ein Anzug. Ansonsten gibt es nichts, das die Möbel mit irgend einer Geschichte belädt. Kein Spielzeug, keine Romane, keine Bilder.
Vinzent kann sich nicht entsinnen, wie er früher die Zeit in diesem Zimmer verbracht hat.
Als er sich umdreht ist seine Schwester verschwunden.
Mit einem seufzen lässt Vinzent sich auf das Bett fallen. Er fährt sich mit den Händen durch das Gesicht,
wirft einen kurzen Blick auf die Tischuhr auf der Kommode. Es ist vietelnachfünf.
Eine dreiviertel Stunden später sitzt Vinzent, geputzt und gekämmt, im Esszimmer seiner Eltern und hört schweigend zu, wie die Herren von Verkaufszahlen und die Damen von Hüten und Pelzkrägen sprechen.
So lange er denken kann laden seine Eltern die Einzelhändler und Warenhausbesitzer der umliegenden Region wenigstens einmal im Jahr zu einem großen Essen, das jedes Jahr früher oder später in einem Weingelage endet. Er kennt sie alle, die Herren in ihren Anzügen und ihre Ehefrauen mit ihren, über die eigenen Verhältnisse heraus ragenden, Hutgestecken.
Er kennt sie alle, und doch hat er noch nie mit einem einzigen von ihnen ein Wort gewechselt.
Schweigend isst Vinzent Salat und Kartoffeln und Erbsen und Karotten und ignoriert den fordernden Blick, mit dem seine Mutter die Platte mit dem Tafelspitz in seine Richtung schiebt. Mit so vielen Gästen am Tisch wird sie nichts sagen.
„Und Sie lernen jetzt also das Handwerk?“
Ein wenig erstaunt blickt Vinzent auf. Herr Bachmeier, der mit seinem Warenhaus bald sämtlichen Einzelhandel aus Werringen vertrieben hat, versieht ihn mit einem jovialen Lächeln.
Vinzent beeilt sich, das was er im Mund hat hinunter zu schlucken, doch ehe er so weit ist, hat sein Vater schon das Wort ergriffen.
Ganz richtig, stimmt er zu, Vinzent würde jetzt das Uhrmacherhandwerk lernen, wie sich das gehört, aber noch mehr, fügt er hinzu - und zu Vinzents großer Irritation schwingt da fast so etwas wie Stolz in der Stimme seines Vaters mit - Vinzent sei direkt an der weiterentwicklung des Handwerks beteiligt.
Herr Bachmeier hebt eine Augenbraue. Er mustert Vinzent über den Goldrand seiner Brille hinweg.
„Ist das so? Was gibt es denn da noch weiter zu entwickeln?“, fragt er.
Vinzent nimmt hastig einen Schluck von seinem Wein, in der Hoffnung, sein Vater würde erneut für ihn das Wort ergreifen, aber auch sein Vater sieht ihn nun mit neugieriger Miene an.
„Nun ja“, im Glattstreichen seiner Serviette sucht Vinzent eine Ablenkung.
Es sei immer möglich ein Uhrwerk in seinem Lauf noch präziser zu machen, bringt er stotternd hervor.
Weder Bachmeier noch sein Vater, noch die anderen Herren um sie herum wirken sonderlich begeistert.
Einige Sekunden lang herrscht Stille. Dann ergreift Uhrmachermeister Konstantin Schlüssel das Wort.
„Tatsächlich“, erklärt er, „wird es schon bald gar nicht mehr nötig sein, Uhren von Hand zu stellen.“
Vinzent öffnet seinen Mund, schließt ihn dann aber wieder.
„Stellen Sie sich das vor! Uhren, die von selbst wissen, wie spät es ist.“
Schlüssels Gäste wechseln ungläubige Blicke.
„Sie wollen uns doch auf den Arm nehmen“, sagt einer von ihnen.
Ein anderer wendet sich Vinzent zu. Ob das wahr sei, will er wissen.
Vinzent stammelt herum.
Es sei noch ein weiter Weg, erklärt er.
Andere Fragen folgen, wie die Uhren die Zeit wissen können, ob es mit Radiowellen funktioniere. Vinzent gibt ein paar ausweichende Antworten, bis sein Vater endlich erklärt, die Kommunikation würde in der Ausbildung seines Sohnes offensichtlich vernachlässigt. Wenn seine Tochter nicht so einen fähigen Uhrmacher geheiratet hätte, dabei nickt er seinem Schwiegersohn über den Tisch hinweg zu, er würde sich ernsthafte Sorgen um die Zukunft des Uhrenhandels machen.
Seine Gäste lachen. Sie prosten Uhrmachermeister Tack und seiner Frau Helen zu.
Kurz vor Mitternacht gelingt es Vinzent endlich, sich in sein Zimmer davon zu stehlen. Er wirft die Kleider achtlos über den Schreibtischstuhl und sucht in seinem Koffer nach seinem Schlafanzug.
Dabei fällt ihm ein Päckchen entgegen. In braunes Papier gewickelt, mit einer Schleife darum.
Es ist die Spieluhr, die er in den vergangenen Monaten in seiner Freizeit gebaut hatte. Wohl nach Feders Anleitung, aber im Grunde doch ganz allein. Er hatte vorgehabt, sie seinem Vater zu schenken. Das erste (das einzige) Handfeste Ergebnis seiner Ausbildung.
Auf dem Bett sitzend löst Vinzent die Schleife. Er öffnet das Papier. Sogar das Kästchen, das das Spielwerk umgibt, hat er selbst gezimmert. Er öffnet den Deckel, nimmt den Schlüssel aus seinem Versteck und zieht die Spieluhr auf. Er stellt sie auf der Matratze ab und rollt sich daneben in seine Bettdecke.
Die Vibrationen der Melodie klingen durch das Kissen. Bald ist Vinzent ganz von der Musik umgeben.
Er schließt seine Augen und stellt sich vor, nicht hier, sondern im Institut zu sein. In seinem Bett, in seiner Kammer, mit dem Bett von Kasimir Ennart auf der anderen Seite des Zimmers. Er stellt sich den Geruch der Kissen dort vor, und dass die Stimmen, die immer im Wohnzimmer schwatzen und lachen, nicht zu seinem Vater und dessen Abnehmern gehört, sondern zu Feder und Anker und Windfang.
Das Lied der Spieluhr verklingt und Vinzent öffnet seine Augen. Er dreht sich auf den Rücken und atmet einmal tief ein und wieder aus und spürt, dass er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich versteht, was es bedeutet Heimweh zu haben.