Chronotrope Schäden

Jul 18, 2017 15:49

Team: Aschenputtel
Prompt: Wärmflasche (romantik/intimität - für mich)
Wörter: 1.347
Original: Uhrwerkträume
Charaktere: Wendora Feder, Loisa Ennart, Emmit Unruh
Inhalt: Wendora findet ein Geheimnis im Haus ihrer Familie
Kommentar: Alles ganz anders als geplant, und es ist nicht mal keine Intimität, nur eine ganz, ganz andere als ich ursprünglich gedacht hatte... oO


Blenstett, Mai 1907
Im Frühjahr 1907 macht Wendora eine Entdeckung im Haus ihrer Mutter, die ihr Leben verändert.
Seit neun Monaten lebt sie nun bei ihrer Mutter. In diesen neun Monaten hat Wendora manche Beobachtung gemacht, auf die sich keinen rechten Reim bilden kann. Zum Beispiel die Wärmflasche.
Jeden Morgen, nach dem Frühstück, füllt ihre Mutter eine Wärmflasche und bringt diese ins obere Stockwerk des Hauses, ganz gleich, ob sie ihren weiteren Tag dort oder im Krankenhaus oder anderswo zubringt.
Während der Schulzeit hatte Wendora sich darüber keine großen Gedanken gemacht. Da war die Herausforderung einer neuen Klasse, in der alle anderen Mädchen sich schon seit Grundschulzeiten kannten, zu groß und zu überwältigend. Die Herbstferien hatte Wendora bei ihrem Vater im Institut verbracht und in den Winterferien hatte es genügend andere Aufregung gegeben; der Besuch ihres Vaters, die Ernennung von Schlüssel und Wendoras Cousin Kasimir zu Uhrmachern und später Kasimirs Verschwinden.
Im Frühling des Jahres 1907 aber herrscht endlich eine Ruhe in Wendoras Leben, die ihr erlaubt sich über das Verhalten ihrer Mutter zu wundern.

Es ist der siebte Mai, ein Feiertag, dessen religiösen Hintergrund Wendora als Uhrmacherkind nicht kennt, und Wendora beschließt dem Geheimnis der Wärmflasche ihrer Mutter auf den Grund zu gehen.
Unter dem Vorwand eines Aufsatzes, den sie noch schreiben muss, lässt Wendora ihre Mutter mit dem Abwasch alleine. Im Flur, im oberen Stock, gibt es einen Wandschrank, gleich neben Wendoras Zimmer, ein kleines Kabuff, indem die dicken Daunendecken den Sommer zubringen können. Den Daunen zu liebe ist die Tür zu diesem Kabuff nicht ganz geschlossen. Ein kleines Fenster ist da, mit einem feinmaschigen Gitter verdeckt.
Wendora macht es sich zwischen den Decken bequem, zieht die Tür hinter sich zu und wartet gespannt was passieren wird.
Siebzehn Minuten später hört sie das Pfeifen des Wasserkessels. Bald darauf kommt ihre Mutter, mit der Wärmflasche im Arm, die Treppe hinauf, bleibt kurz stehen, sieht sich zu allen Seiten um, dann läuft sie geradewegs auf das Bücherregal zu. Sie greift in das Regal hinein - Wendora hält den Atem an - und zieht es, wenig später zurück, dass es in einem Winkel von fünfundvierzig Grad in den Flur hinein steht.
Noch einmal sieht Wendoras Mutter sich um, dann verschwindet sie hinter der Geheimtür. Das Regal gleitet, wie von Geisterhand, zurück an seinen Platz.
Wendora gibt ein leises Quietschen von sich, so aufgeregt ist sie über diese Entdecktung. Eilig presst sie die Hände vor ihren Mund.
Ihre Mutter bleibt eine dreiviertel Stunde lang verschwunden. Als sie wiederkommt hat sie die Wärmflasche nicht mehr bei sich. Sie läuft die Treppe hinunter, dreizehn Minuten später ruft sie einen Abschied die Treppe hinauf.
Die Haustür fällt ins Schloss. Wendora wartet fünf weitere Minuten.
Dann klettert sie aus ihrem Versteck.
Mit klopfendem Herz und zitternden Fingern nähert sie sich dem Regal. Sie muss nicht lange suchen um die leeren Buchrücken zu finden, hinter denen sich tatsächlich eine Klinke verbirgt, aber die dazugehörige Tür mitsamt Regal zu öffnen stellt sich als ein wahrer Kraftakt heraus.

Wendora erwartet etwas dunkles, geheimnisvolles hinter dem Regal, eine geheime Treppe die in ein finsteres Labor führt, vielleicht. (Sie würde es ihren Eltern durchaus zutrauen so etwas in ihrem Stadthaus zu verstecken). Doch was sie stattdessen findet verschlägt ihr noch mehr den Atem, als jedes Gruselkabinett es könnte.
Sie steht in einem kleinen Zimmer, die Tapete ist altrosa und mit Blumen gemustert, die Fenster sind gekippt, davor flattern weiße Gardinen im Luftzug. Ein gemachtes Bett, mit blütenbesticktem Überwurf, steht an der einen Wand, auf dem Nachttisch daneben eine Lampe, ein Buch und eine Spieluhr.
Über dem Bett hängt ein Gemälde - das ist nichts ungewöhnliches, in diesem Haus, aber dieses Gemälde ist anders als die anderen, der Pinselstrich ein anderer als der von Wendoras Onkel Willem, die Farben weniger gedeckt, als seine.
Für einen Moment verliert Wendora sich in der Betrachtung des Bildes. Mit weißen und blauen Linien auf Schwarzem Grund ist da ein Netz gezeichnet, ein Geflecht, das Wendora an Wurzeln denken lässt, an Flechten auf Gestein und an Spinnweben. Wo immer eine Linie auf eine andere trifft, verschwimmen ihre Konturen in einem vielfarbigen Pulsieren.
Die Haare auf Wendoras Armen stellen sich auf, ein angenehmes Kribbeln macht sich hinter ihrer Stirn breit, füllt ihren ganzen Kopf und läuft ihre Wirbelsäule hinunter, bis in ihre Zehenspitzen.
Wendora könnte nicht sagen weshalb, aber ihr scheint dieses Bild das vollkommste Bild zu sein, dass sie überhaupt jemals gesehen hat und jemals sehen wird. Nur mit mühe kann sie sich losreißen. Sie dreht sich um, und wie sie sich umdreht stößt sie einen Schrei aus, vor Schreck.
Hinter ihr sitzt jemand. In einem Schaukelstuhl, die Wärmflasche auf dem Schoß, sitzt eine junge Frau und starrt mit leerem Blick an Wendora vorbei und auf das Gemälde.
Wendora macht einen Schritt zurück, dass sie gegen das Bett stößt.
„Hallo“, bringt sie stammelnd hervor.
Die junge Frau antwortet nicht. Rührt sich nicht. Ihre Haut ist so blass und so glatt, sie könnte eben so gut aus Wachs sein.
Ihr Nussbraunes Haar fällt glatt über ihre Schultern. Ihr Gesicht ist rund, mit großen, moosgrünen Augen, ihre herzförmigen Lippen sind halb geöffnet. Alle vier Sekunden blinzelt sie, mechanisch, ihre Brust hebt und senkt sich ganz leicht.
„Wer bist du?“
Wendoras Stimme zittert. Ihre Hände zittern auch, während sie auf die junge Frau zutritt. Ihr ist, als habe sie sie schon einmal irgendwo gesehen, aber sie kann sich nicht entsinnen wo.
Den Atem anhaltend streckt Wendora eine Hand nach den Händen der Fremden aus.
„Was machst du hier?“
Die Haut unter Wendoras Fingern ist kalt, auf eine ganze sonderbare Weise. Wendora weiß, aus dem Physikunterricht, dass Kälte nichts weiter ist als Wärme die von einem selbst in einen anderen Körper übergeht. Aber sie hat diesen Vorgang noch nie so deutlich als eben das gespürt, wie in diesem Moment.
Die Berührung ist anders als jede Berührung die Wendora bisher erlebt hat. Eine tiefe Sehnsucht nimmt von ihr Besitz, ein Gefühl als müsste jede Zelle in ihrer Hand vor schierem Verlangen implodieren. Das ist ein regelrechter Hunger nach Ausgleich, nach geteilter Wärme.
Wendora schaudert. Aber sie findet das Gefühl nicht unangenehm. Im Gegenteil.
Ohne zu wissen wie ihr geschieht klettert sie auf den Schoß der Fremden. Sie stößt die Wärmflasche achtlos beiseite, schlingt ihre Arme am den blassen Hals und presst ihren Körper gegen das leblose Fleisch. Ein leises Stöhnen entweicht ihren Lippen, während tausend Unsichtbare Hände durch ihre Haut bis in ihr Innerstes greifen, und sich dort umeinander schlingen. Ihr ist, als würde ihr Herz ersticken, und es ist das unglaublichste, das schönste Gefühl, das man sich überhaupt vorstellen kann.
Vor ihren geschlossenen Augen breitet sich Dunkelheit aus und in dieser Dunkelheit sieht Wendora die weißen Linien, die bunt pulsierenden Kreuzungen, von dem Gemälde über dem Bett. Sie folgt den Linien, hier hin und dort hin, und sie versteht ihren Lauf, versteht was sie sagen, die Farben, die Muster…

Mit einem Mal wird Wendora aus der Dunkelheit gerissen. Jemand packt ihren Körper, Wendora bemerkt es wie im Traum, und zerrt ihn vom Schoß der Fremden, aus dem Zimmer hinaus.
Als Wendora die Augen öffnet liegt sie in ihrem eigenen Bett. Das Gesicht ihrer Mutter ist über sie gebeugt, mit Tränen in den Augen.
„Nora“, sagt sie immer wieder und ihre Hände wissen nicht wohin, greifen nach Wendoras Schultern, nach ihrem Haar, streichen über ihre Wangen. Wendora zuckt unter der Berührung zurück. Die Hände ihrer Mutter scheinen ihr heiß, wie glühende Kohlen.
„Was hast du nur angesellt…“
Wendora erinnert sich, auch wenn die Erinnerung schon jetzt zu verblassen beginnt. Sie lächelt.
„Ich habe das ganze Universum gesehen“, sagt sie, „und er ist wunderschön.“
„Wie sah er aus?“, fragt sie.
„Wie das Bild in dem Zimmer, aber viel größer.“
Ein stechender Schmerz in ihrem Leib lässt Wendora zusammenzucken. Als hätten ihre Eingeweide Mühe zurück an den richtigen Platz zu finden.
In den Augen ihrer Mutter zeigt sich trotzdem ein Hauch der Erleichterung. Sie zupft Wendoras Bettdecke zurecht.
„Du hast Glück, dass ich dich gefunden habe“, sagt sie und küsst Wendora auf die schweißnasse Stirn.
„Ruh dich aus“, sagt sie.
„Wir sprechen später darüber.“

leni, original, original: uhrwerkträume, team: aschenputtel

Previous post Next post
Up